"Kriegschronik" der Kichengemeinde Varenholz, geschrieben vom Gemeindepfarrer Bernhard Harms
1. Juli 1915 - 26. Januar 1919

Sie finden hier den Abdruck der "Kirchlichen Gemeindechronik Varenholz", die der Gemeindepfarrer Bernhard Harms am 1. Juli 1915 begonnen hat. Mit Ausnahme des Eintrags vom 1. Juli 1915, der mit einer langen retrospektiven Sicht aufwartet, sind alle weiteren Einträge mit einer dichten, zeitlichen Nähe zu den geschilderten Ereignissen erfolgt. Eine "Kriegschronik" zu verfassen beruhte mit großer Wahrscheinlichkeit nicht auf einem persönlichen Entschluss Pastor Harms, sondern auf einer Rundverfügung des Fürstlichen Konsistoriums, der obersten Behörde der Lippischen Landeskirche, vom 24. März 1915. Sie verpflichtete die lippischen Kirchengemeinden zur Führung einer Chronik während des Krieges.*

(* "Rundverfügung des Fürstlichen Konsistoriums, die Führung von Kirchenchroniken während der Kriegszeit betr.", vom 24. März 1915 Nr. 1599 in: Fürstliches Konsistorium (Hrsg.) Sammlung kirchlicher Gesetze und Verordnungen für das Fürstentum Lippe, Band I, Detmold 1916, S. 310 f.)

 

Beginn Abdruck Kriegschronik

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Kirchliche Gemeindechronik Varenholz, begonnen im Kriegsjahre 1915 durch Pastor B. Harms

 

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Psalm 90,1: Herr Gott, du bist unsere Zuflucht für und für.

Hbr. 13,8: [in Altgriechisch, übersetzt: „Jesus Christus ist derselbe gestern, heute und in Ewigkeit.“]

Eintrag 1. Juli 1915
Zum 1. April 1914 ist der Pastor Karl Thorbecke wegen schweren Nervenleidens in den Ruhestand getreten, nachdem er seit dem 1. Juli 1883 hier gewirkt hatte, vielfach durch sein Leiden gehemmt und zu längeren Unterbrechungen genötigt. Die Vakanz des Pfarramtes dauerte bis zum 1. November 1914. In Predigt, Unterricht und Seelsorge sowie in Amtshandlungen halfen die benachbarten Geistlichen aus, besonders Pastor Wesemann in Langenholzhausen, dem der Vorsitz im Kirchenvorstande übertragen worden war. Während der Erledigung des Pfarramtes brach am 1. August der Weltkrieg aus. Auch bei den ausziehenden Leuten unserer Gemeinde herrschte große Begeisterung. Der allgemeine Buß- und Bettag am 5. August wurde auch hier durch gut besuchten Gottesdienst gefeiert. In dieser Zeit, wo die Herzen einer kirchlichen Einwirkung besonders zugänglich waren, wurde das Fehlen eines ordentlichen Seelsorgers besonders schmerzlich empfunden. War es doch nicht einmal möglich ge-

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wesen, für die ausziehenden Krieger eine besondere Abendmahlsfeier zu veranstalten. Weil nun seit Jahren im Fürstentum Lippe Mangel an Theologen herrschte, der durch den Krieg noch stark vergrößert wurde, so daß es nicht möglich war, einen Kandidaten als Vikar hierher zu bekommen, so wurde der Missionar A. Fehr in Detmold, früher auf [unleserlich] tätig, derweilen Vertreter der Rheinischen Mission für Lippe, mit der vikarischen Verwaltung des Predigeramtes betraut. Er nahm sich warmherzig und treu der Gemeindearbeit an, hielt in den Schulen von Stemmen und Erder Bibelstunden, seit Mitte September eine Kriegsbetstunde wöchentlich am Dienstag und wußte besonders die Liebe zur Rheinischen Mission zu fördern. Schon im Juni hatte unterdessen Pastor Wesemann Verhandlungen angeknüpft mit Pastor Harms in Proskau, Kreis Oppeln, Schlesien. Auf diesen hatten sich die Blicke der Gemeinde gerichtet, weil er vor Jahren Vikar in dem benachbarten Langenholzhausen gewesen und dadurch auch hier bekannt geworden war. Am 25. Juni lud der Kirchenvorstand ihn durch ein gemeinsames Schreiben ein, sich um die Pfarrstelle zu bewerben. Am 12. Juli hielt Pastor Harms eine Gastpredigt in Varenholz und reichte auf die erneute mündliche Bitte des Kirchenvorstandes seine Bewerbung ein. Er wurde vom Kirchenregiment präsentiert, von der Gemeinde gewählt und vom Fürsten ernannt. Da aber seine Loslösung von Proskau Schwierigkeiten machte, so konnte er erst zum 1. November hierher übersiedeln.

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Am genannten Tage trat er sein Amt in Varenholz an und wurde am 8. Nov. durch Superintendent Corvey aus Hohenhausen feierlich eingeführt. Personalien des Pastor Harms: Bernhard Harms, geboren am 21. Juli 1867 in Lesumbrok bei Bremen, besuchte das Gymnasium in Bremen, studierte Theologie in Greifswald, Berlin und Halle. Erstes theol. Examen in Münster Ostern 1891, im Sommer 1891 Hauslehrer in St. Petersburg, Dez. 1891 – Mai 1892 Vikar bei Superint. Volkennig in Holzhausen bei Lübbecke, Herbst 1892 zweites theol. Examen in Münster, dann als Vikar nach Langenholzhausen zu Superintendant Krücke. In dieser Stellung wurde er am 30. Dez. 1894 in der reformierten Kirche in Vlotho durch Superintendent Delius aus Valdorf ordiniert, und zwar auf Anordnung des Westfälischen Konsistoriums, nach Eintritt in die Rheinisch – Westfälische Pastoral Hilfsgesellschaft, da ihn das Lippische Konsistorium nicht ordinieren konnte, weil er der Lippischen Landeskirche nicht angehörte. Nach dem Tode des Superintendenten Krücke 15. März 1896 verwaltete er das Pfarramt Langenholzhausen selbständig, bis er im Herbst 1896 als Studien – Inspektor an das Predigerseminar in Soest berufen wurde. Wegen Krankheit legte er im April 1898 dies Amt nieder und folgte einer Berufung des Berliner Oberkirchenrates als Pastor der Diaspora – Gemeinde Proskau, Kreis Oppeln, wo er 16 ½ Jahre lang wirkte. Der neue Geistliche suchte seine leider wegen Nervenschwäche geringen Kräfte in den Dienst der Gemeinde und der ernsten Zeit zu stellen. Die Hinterbliebenen der gefallenen Krieger

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wurden getröstet, die Familien der im Felde stehenden möglichst besucht, die Adressen der Krieger gesammelt. Aus einem dem Generalsuperintendenten Wessel durch Gaben von Deutsch – Amerikanern zur Verfügung stehenden Fonds wurde einer Kriegswitwe (Sievert) eine Gabe von 25 M zugewendet. Der Besuch der Gottesdienste und Abendmahlsfeiern belebte sich unter dem Eindruck des Ernstes der Zeit. Auch die Kriegsbetstunden am Dienstag bei Eintritt der Dunkelheit (mit gleitender Zeit, im Sommer bis 8 Uhr) beginnend, wurden zufriedenstellend besucht. Auf Anordnung der Kirchenbehörde wurde am 27. Januar 1915 zum ersten Male der Geburtstag des Kaisers in der Lippischen Landeskirche kirchlich gefeiert. Die Kirche war bei uns bis auf den letzten Platz gefüllt, die drei Kriegervereine mit den angegliederten Jugendwehren waren vollzählig erschienen, zum Teil mit Fahnen. Ein Geläut bei Siegesnachrichten wurde eingeführt, ebenso eine Kirchliche Gedächtnisfeier für Gemeindeglieder, die im Kriege umgekommen sind. Die Gedächtnisfeier verläuft folgendermaßen: Am Schlusse des Gottesdienstes, vor dem Segen, verliest der Geistliche von der Kanzel den Namen des Gefallenen und hält ihn [sic] einen ehrenden Nachruf, in welchem das Wichtigste aus seinem Leben und Sterben erwähnt wird, dann singt die Gemeinde ein Gedächtnislied bei dessen Auswahl die Wünsche der Angehörigen berücksichtigt werden. Nach Schluß des Gottesdienstes findet dann ein Trauergeläut statt. Am 15. November 1914 fand die erste derartige Feier statt, und zwar für die ersten vier

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Gefallenen gemeinschaftlich. Bis heute, dem 1. Juli 1915, sind 9 Gemeindemitglieder im Felde gefallen, ein im Feindesland erkrankter Armierungssoldat ist zu Hause in Stemmen gestorben und begraben. Auch für einen katholischen Gefallenen aus Varenholz wurde die Feier auf Begehren der Angehörigen gehalten. Vier Krieger werden vermißt, zwei sind gefangen (1 in England, 1 in Algerien). Das Eiserne Kreuz erwarben sich bisher 9 Krieger. Die notwendigen wirtschaftlichen Maßregeln der Behörden wurden von Seiten der Kirche unterstützt, die wichtigsten Verfügungen dieser Art von der Kanzel verlesen und erläutert. Aus Anlaß der Beschlagnahme der Getreide- und Mehlvorräte, der Einführung des Kriegsbrotes (Anmerkung: 25. Januar 1915 Einführung der Brotkarte in Deutschland; Beginn der Lebensmittelrationierung) und der Brotkarten wurde in der Predigt mehrfach die wirtschaftliche Sparsamkeit und Genügsamkeit und besonders eine ehrfurchtsvolle Behandlung des Brotes ans Herz gelegt. Am 7. März 1915 wurde im Saale von Böke eine sehr gut besuchte Versammlung veranstaltet, in welcher der Pastor und Landtagsabgeordnete Zeiß aus Schwalenberg sprach über „Volksernährung im Kriege“. Am Weihnachtsfest 1914 wurde im Anschluß an einen Erlaß des Generalkommandos in Münster die Gemeindeglieder aufgefordert, ihr Goldgeld zur Reichsbank zu befördern, was zur Folge hatte, daß bei den Postanstalten mehrere tausend Mark in Gold eingezahlt wurden. Aus Anlaß der sog. „Reichswollwoche“ wurde gebeten, auch hier die alten und überflüssigen Wollsachen abzuliefern. Der Vaterländische Frauenverein, der die Sache in die Hand genommen

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hatte, konnte daraufhin eine große Menge von Wollsachen zusammenbringen. Der Geistliche ließ es sich angelegen sein, mit allen im Felde stehenden Kriegern aus der Gemeinde in seelsorgerliche Verbindung zu treten durch seelsorgerische Briefe an jeden Einzelnen und Sendung von gutem Lesestoff. Zu Weihnachten 1914 wurde jedem Krieger das kleine Andachtsbuch „Waffen des Wortes“ übersandt. Die Zahl der Eingezogenen stieg fortwährend und beträgt jetzt, Anfang Juli, etwa 200, mehr als das Doppelte wie im Herbst. Dadurch wurde auch die Schwierigkeit ihrer Versorgung immer größer. Jetzt wird jeden Monat außer Druckschriften ein hektographierter Brief mit Nachrichten aus der Gemeinde ins Feld gesandt, außerdem wird noch an Einzelne zwischendurch geschrieben, besonders aus Anlaß ihres ersten Ausrückens und bei Verwundungen. An Schriften wurden u.a. ins Feld gesandt: E. M. Arndts Kriegskatechismus, der Anfang zum Lippischen Gesangbuch als Liederbuch, die in Göttingen erscheinende Kriegszeitschrift „Vorwärts zum Sieg“, das Reformierte Sonntagsblatt, welches auch Nachrichten aus den Gemeinden des Fürstentums bringt, das in Bethel herausgegebene Andachtsbüchlein „Aus Gottes Wort“, besonders aber die beim Rauhen Hause in Hamburg erscheinenden Kriegsschriften: Petrich „Deutsche Männer“ (eine Sammlung kleiner biografischer Hefte), Weichert „Mit blanker Wehr für deutsche Ehr“ (Geschichte des Weltkrieges in Heften), auch Hefte mit Erzählungen und manches Andere. Die Dankbarkeit der Krieger für diese Fürsorge kommt zum Ausdruck

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in den Karten und Briefen zum Teil ergreifenden Inhaltes, wie sie sich zu vielen Hunderten anhäufen, und in den Besuchen der beurlaubten Kämpfer bei ihrem Seelsorger. Der religiöse Geist des Heeres tut sich kund in manchen Bekenntnissen, wenn z.B. ein Krieger schreibt: in diesem Kriege habe schon mancher wieder beten gelernt, auch er selbst habe es wieder gelernt und den Pastor ermächtigt, dies der Gemeinde mitzuteilen. Manche berichten von ergreifenden Gottesdiensten im Felde. Die religiösen Äußerungen beschäftigen sich freilich im allgemeinen nur mit dem ersten Artikel. Ausdrücke der Heilandsgemeinschaft finden sich fast nur bei solchen, die schon vorher, etwa durch Gemeinschaftsversammlungen, religiös tiefer angeregt waren. Die Kosten der Versorgung der Krieger mit Briefen und Schriften trug den Winter hindurch der Geistliche allein und verwandte auf diesen Zweck gegen 70 Mark. Da mit der wachsenden Zahl der Krieger sich die Kosten ständig erhöhten, so beschloß der Kirchenvorstand, von April 1915 ab eine monatliche Kollekte dafür abzuhalten. Diese fand bei der Gemeinde willige Beteiligung und ihr Ertrag in den ersten drei Monaten war 52,18 Mark. Andere Kirchenkollekten für Kriegszwecke waren: für die Geschädigten in Ostpreußen, am 1. Advent: 61,62 M, für die Soldatenarbeit des Westdeutschen Jünglingsbundes: 28,70 M (Estomihi). Besonders freudige Beteiligung fand die Sammlung für die im Kriege erblindeten Kämpfer,

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die auch in vielen anderen lippischen Gemeinden stattfand. Nachdem Lehrer Fricke in Erder dafür schon durch die Schule gesammelt und ca. 80 M aufgebracht hatte, bat am I. u. Trin. auch der Geistliche die Gemeinde, ihm Gaben für diesen Zweck anzuvertrauen. Seiner Bitte wurde in den nächsten Wochen in so reichem Maße entsprochen, daß er 272,- Mark an die Geschäftsstelle der „Lippischen Tageszeitung“ einsenden konnte. [Randbemerk: Später auf 282 M gestiegen.] An der Liebestätigkeit für Kriegszwecke beteiligten sich auch die Schulen. Insbesondere stand der Lehrer Fricke in Erder mit vielen Kriegern des Ortes in Verbindung und sandte ihnen Lesestoff. Zur Bekämpfung der Läuseplage sammelte er durch die Schule 40 Mark, für die Lazarette fand eine Eiersammlung statt (im Mai), welche etwa 300 Eier ergab. Ebenso viele brachte Lehrer Döhnel durch die Schule in Varenholz zusammen. Die Arbeit der weiblichen Liebestätigkeit wurde organisiert durch den Vaterländischen Frauenverein, dessen Vorsitz nach dem Abgange von Frau Pastor Thorbecke Frau Dr. Finke übernahm. Seit Ausbruch des Krieges versammelte sich der Verein zweimal wöchentlich: einmal im Gasthause von Dohme in Varenholz und ein zweites Mal im Hause der Kassiererin, Frau Flörkemeier in Stemmen. Später fiel die letztere Versammlung aus, und nur die in Varenholz blieb bestehen. Die Zahl der mitarbeitenden Frauen und Mädchen war leider nur klein, durchschnittlich 7 – 12.

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Der Verein sorgte besonders für die Ausstattung der Krieger aus der Gemeinde. Im Winter sorgte er für warme Unterkleidung, schickte auch jedem Krieger ein Weihnachtspaket und wiederholte die Sendung zu Ostern. Er übernahm die Ausführung der „Reichswollwoche“(Anmerkung: 18. – 24. Januar 1915 Sammlung von warmer Unterkleidung für die deutschen Soldaten.) im Januar 1915 für Varenholz und Stemmen, sammelte von Haus zu Haus die gespendeten Wollsachen aller Art, verarbeitete das dazu brauchbare zu Decken und schickte das Übrige an die Zentralinstanz.

Eintrag 1. August 1915
Am Sonntag, dem 1. August 1915 wurde der Jahrestag des Kriegsanfanges feierlich begangen. Das Gotteshaus war gut besucht, der Predigttext war 1. Cor. 10, 12–13, die Einteilung: 1. Gott ist uns treu gewesen. 2. Seien wir ihm auch treu! Die Jugendwehr von Erder war vollzählig in der Kirche. Es wurde eine Kollekte eingesammelt für die Kriegsarbeit des Lippischen Vereins für Innere Mission, die den erfreulichen Ertrag von 52,10 M ergab.

Eintrag 5. August 1915
Am Donnerstag, dem 5. August wurde in den Nachmittagsstunden die Einnahme Warschaus bekannt. Sogleich wurde durch Fernsprecher und Boten in der ganzen Gemeinde ein Dankgottesdienst auf 8 Uhr abends angesagt, der einen sehr guten Besuch hatte. Die Ansprache geschah über Ps. 144, 15.

Eintrag 5. September 1915
Am Sonntag, dem 5. September, wurde unser Missionsfest gehalten. Schon am Vormittag predigte Missionar Fehr aus Detmold, auch wurde bereits eine Missionskollekte gehalten. Nachmittags 3 Uhr war in voll besetzter Kirche die Hauptfeier,

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wobei Pastor Loose aus Eisbergen u. Missionar Fehr, früher auf [unleserlich] Festprediger waren. Auf die Bedeutung des Festes als Kriegsmissionsfest wurde gebührend hingewiesen. Die Kollekten betrugen zusammen 177,12 M, welcher der Barmer Mission überwiesen wurden. [Randbemerk: dann auf 180,12 M gestiegen] Es wurden für 16,55 M Schriften verkauft.

Eintrag 19. September 1915
Am 19. September wurde zum ersten Male ein Gedenkblatt für einen gefallenen Krieger, wie es der Kaiser für die Angehörigen jedes Gefallenen stiftet, überreicht. Die Überreichung geschieht am Schlusse des Gottesdienstes, vor dem Segen, am Altar, unter dem Gesange des Liedes „Wo findet die Seele die Heimat, die Ruh?“. Das erste Gedenkblatt war für Wilhelm Requardt aus Stemmen (Anmerkung: Gefallen am 5. Mai 1915).
Am 28. August wurde mir zum ersten Male der schwere Auftrag der Familie eines Gefallenen die Todesbotschaft zu bringen. Es war ein Sonnabend Vormittag, als der Schuhmacher Gerke von hier zu mir ins Zimmer trat mit ernstem Gesicht und verweinten Augen. Er habe einen an seinen Bruder, den an der russischen Front kämpfenden Musketier Karl Gerke (Anmerkung: Gefallen am 15. August 1915) gerichteten Brief zurückbekommen mit der Aufschrift “Gefallen auf dem Felde der Ehre.“ Nun möchte ich seinen Eltern im Hirtenhäuschen die Trauerbotschaft bringen, bevor sie sie aus unberufenem Munde erfahren. Ich kann die Bitte nicht abschlagen und mache mich gegen Mittag auf nach dem Hirtenhäuschen unter dem Aberge. Je näher ich dem einsamen Häuschen komme, desto langsamer werden meine Schritte. Es ist ein köstlicher, warmer Spätsommertag, da liegt das Häuschen im Schutze des Waldes

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in tiefster Ruhe. Heller Sonnenschein auf der weiten, grünen Weide, und von Veltheim herüber klingt die Mittagsglocke: alles ein Bild des tiefsten Friedens. Und in diesen Frieden hinein soll ich nun in den nächsten Minuten den herbsten Schmerz tragen, das Haus wird wiederhallen von Trauertönen. Aber es muß sein. Der Vater, der Hirte, ist aus in seinem Beruf, aber die Mutter ist daheim. Sie ahnt nichts, antwortet mir unbefangen, wann sie die letzte Nachricht von ihren drei Söhnen im Felde und insbesondere von diesem erhalten. Ich schlage immer ernstere Töne an, spreche von den Gefahren des Krieges, von der Möglichkeit, jede Stunde eine Trauernachricht zu bekommen; sie wird aufmerksam. Nun muß die Schreckenskunde heraus. Erst faßt die Mutter die Bedeutung der Worte kaum, dann bricht sie in laute, ergreifende Klagen aus. Der Gefallene, ein lange schwächlicher und pflegebedürftiger Mensch, ist ihr Lieblingssohn gewesen. Die verheiratete Tochter stürzt herein, hört, was mit dem Bruder geschehen, und erhebt auch ihre Stimme. Es dauert eine Weile, bis meine Trostworte Gehör finden, bis ich im Gebet die große Not vor Gott bringen kann. Aber der Schmerz ist kaum gemildert: hier muß der Herr durch seine große Gehilfin wirken: die Zeit. Ich verlasse das Häuschen, noch ist rings umher Mittagsfriede, aber das Haus hinter mir ist ein ganz anders geworden, als da ich es betrat. Später eingehenden Nachrichten zufolge ist der Sohn am 15. August beim Sturm auf Fort 2 von Kowno gefallen.
Der Pastor wurde für Varenholz Vertrauensmann der Kriegsnachrichten – Sammelstelle in Münster, Universität,

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und hat als solcher die Aufgabe, aus dem Volke hervorgegangene Schriftstücke, die für die Geschichte des Krieges wichtig werden können, insbesondere inhaltsreiche Feldbriefe, zu sammeln und in Abschrift oder Urschrift einzusenden.

Eintrag 21. November 1915
Schon ist gestern am 21. Nov., zum zweiten Male während des Krieges Totenfest gewesen, und noch immer keine Aussicht auf ein Ende des Krieges. Zum zweiten Male kommt die Winterzeit u. Weihnachten naht. Der Vaterländische Frauenverein will wieder einen jeden Krieger aus seinem Bezirk (Varenholz u. Stemmen) ein Paket zum Feste stiften. Die Vorsitzende Frau Dr. Finke und die Pfarrfrau sind mehrere Tage, manchmal bei sehr schlechtem Wetter, von Haus zu Hause gegangen, für diesen Zweck zu sammeln. Sie haben im allgemeinen offene Hände gefunden und etwa 470 Mark zusammengebracht. Doch hat es auch nicht an Häusern gefehlt, wo sie hart abgewiesen sind. Eine Abnahme der Opferwilligkeit ist mit der längeren Dauer des Krieges nicht zu verkennen, wenn sie gleich noch immer erfreulich ist. Der Verein sorgt zunächst für die etwa 130 Krieger seines Bezirks, sodann macht er 20 größere Pakete mit Liebesgaben, die dem 55. Regimente ( Anmerkung: Das Infanterieregiment Nr. 55 war in Westfalen stationiert und dem VII. Armeekorps in Münster unterstellt. Sein III. Bataillon war das Bataillon „Lippe Detmold“, das seinen Friedensstandort in Detmold hatte. Die beiden anderen Bataillone waren in Höxter und Bielefeld stationiert. Das Regiment kämpfte im Ersten Weltkrieg ausschließlich an der Westfront, insbesondere im Pas de Calais. In dem Regiment dienten traditionell viele Lipper.) Nach dem Kriege wurde es Ende 1918/ Anfang 1919 aufgelöst.zur Verteilung zur Verfügung gestellt werden. Die meisten seiner Mitglieder beteiligen sich auch an dem Liebeswerk für das 7. Armeekorps, dadurch daß der einzelne Geber 5 Pakete mit je 2 Liebesgaben dem Korps zur Verfügung stellt. Leider ist in Erder kein Verein, da ein Versuch im

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vorigen Jahre wieder eingeschlafen ist.

Eintrag 4. März 1915
Den 4. März 1916
In Erder wurden Weihnachtsgaben für die Krieger des Dorfes durch den Lehrer Fricke versandt, die Kosten trug der Kriegerverein in Verbindung mit der Dorfkasse. Am 25. Nov. 1915 wurde in Varenholz ein Jungfrauenverein begründet (Donnerstag nach Totenfest). Die Pfarrfrau, versammelt um sich einmal wöchentlich die dazu willigen jungen Mädchen aus der Gemeinde, insbesondere aus Varenholz und Stemmen (aus Erder kann wegen der Entfernung kein Besuch stattfinden). Zum Versammlungsort wurde wegen Mangels eines anderen passenden Raumes der Saal im Gasthause von Dohme genommen. Die Pfarrfrau übt mit den jungen Mädchen, deren 20 – 30 sich beteiligen, geistliche Lieder mehrstimmig ein, und am Schlusse der Stunde erscheint der Pastor und schließt mit einer Abendandacht. Zuweilen wird auch ein kleiner Vortrag gehalten oder etwas erzählt. Die Versammlungen machen den Mitgliedern große Freude, der Verein wirkt auch an Festtagen in der Kirche als Kirchenchor, zur Freude der Gemeinde. Ein Feldgrauer aus Erder, der bei seinem Urlaub am 1. Weihnachtstage und zu Sylvester in der Kirche gewesen war, schrieb im Januar aus den Eis- und Schneefeldern Rußlands und bat seinen Pastor, dem Jungfrauenverein in seinem Namen für sein Singen zu danken. Solche Erfahrungen sind Mitgliedern und Leitern eine Ermutigung. Der Verein trat 1916 dem Lippischen Verbande von Jungfrauenvereinen bei.

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Die Zunahme des kirchlichen Lebens im Jahre 1915 zeigte sich auch in der Vergrößerung der Kommunikantenzahl. Während diese 1914 im ganzen 568 betragen hatte, hob sie sich 1915 auf 696 (294 Männer und 402 Frauen). Hoffentlich hält diese Besserung an, wie auch die Besserung des Kirchenbesuches, damit der Ruf der Gemeinde, eine der unkirchlichsten des Landes zu sein, beseitigt wird! Die Liebestätigkeit war erfreulich. Im Jahr 1915 wurde in 17 Kirchenkollekten für 8 verschiedene Zwecke 347,53 M aufgebracht. Hiervon waren 237,17 M für Kriegszwecke bestimmt. Besonders zu erwähnen ist davon die Kollekte zur Versorgung der Krieger der Gemeinde mit Schriften (vgl. 7.7), welche seit April achtmal erhoben wurde und zusammen 156,37 M einbrachte. Für die Mission wurden 258,83 M aufgebracht, welche zum größten Teil der Rheinischen Missionsgesellschaft überwiesen wurden. Die kirchliche Armenpflege richtete sich neben anderen Bedürftigen besonders auf bedürftige Familien von Kriegern, denen insbesondere Brennholz beschafft wurde. Freilich reichten die Mittel nicht für alle aus, und es mußte eine Auswahl getroffen werden, wobei es ohne Unzufriedenheit der Übergangenen nicht abging. Generalsuperintendent Wessel gewährte auf die Bitte des Pastors weiteren 2 Kriegswitwen Gaben aus seinem amerikanischen Fonds (7.4.), nämlich den Witwen Brandt u. Ottenhausen (Anmerkung:Hermann Ottenhausen, gefallen am 28. Juli 1915.) in Erder, die ihre Söhne im Felde verloren haben, je 40 Mark, 1916 auch der Witwe Marten(Anmerkung: Wilhelm Marten, gefallen am 22. Februar 1916.) in Erder 40 Mark.

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Bis zum 31. Dez. 1915 betrugen die Kriegsverluste der Gemeinde an Toten 18 (1914: 5, 1915: 13), einschließlich eines in der Heimat verstorbenen Armierungssoldaten (Jakob, genannt Kater [Anmerkung: Friedr. Kater, gefallen am 4. August 1915.] n Stemmen). Außerdem wurden auf Wunsch der Angehörigen für 1 katholischen und 1 lutherischen Gefallenen Gedächtnisfeiern in unserer Kirche gehalten. Die Namen der im Kriege gestorbenen Gemeindemitglieder wurden anfangsweise in das Kirchenbuch (Sterberegister) eingetragen. Vermißt und wahrscheinlich auch tot waren bis dahin 3. Der Winter 1915 – 16 verlief im Zeichen des Krieges. Man trifft nur wenige jüngere Männer, da alle irgendwie kriegstauglichen zum Heeresdienst eingezogen sind. Die Stimmung der Zurückgebliebenen ist zwar gedrückt wegen der Sorge um die Angehörigen, aber es ist überall Entschlossenheit, durchzuhalten und daheim seine Pflicht zu tun. Erschwerend wirkt die zunehmende Teuerung, doch leidet hier auf dem Lande, wo jeder Land, Garten und Vieh hat, noch niemand eigentliche Not. Empfindlich ist die Knappheit an Petroleum; viele haben sich elektrisches Licht anlegen lassen, aber da die Maschinen des Werkes in Hohenhausen manchmal versagten, so mußte man manche Abendstunde im Dunkeln zubringen. Umso mehr begrüßt man den nahenden Frühling und das zunehmende Tageslicht. Am 11. Januar 1916 besuchte Pastor Wulfhorst aus Eben – Ezer bei Lemgo auf einer Vortragsreise durch Lippe auch unsere Gemeinde, um auf Grund eigener Anschauung in der Kirche einen Vortrag mit Lichtbildern zu halten über

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Ostpreußens Not und Befreiung. Die Kirche war völlig gefüllt; die Lichtbilder mißrieten leider, weil der Apparat schadhaft geworden, und wir mußten uns mit dem Vortrage begnügen. Die Kollekte für Ostpreußen betrug 59,16 M. Die Veranstaltung fand in den Formen eines Gottesdienstes statt. Kaisers Geburtstag wurde auch diesmal durch einen voll besuchten Gottesdienst unter Teilnahme der Kriegervereine statt [sic], obwohl die Behörde keine kirchliche Feier sondern nur eine Erwähnung im nächsten Sonntagsgottesdienst angeordnet hatte. Im Januar 1916 begann durch das ganze Reich die Sammlung entbehrlicher Gold- und Silbersachen durch den Verein „Vaterlandsdank“, deren Ertrag der Nationalstiftung für Hinterbliebene gefallener Krieger zufällt. Wer Sachen im Werte von etwa 5 M und darüber abliefert, erhält zur Erinnerung einen schönen Ring aus einer neu erfundenen, nicht rostenden Eisenmasse. Hier wird die Sammlung durch den Vaterl. Frauenverein ausgeführt, welcher bereits über 20 Ringe als Gegengabe austeilen konnte. Aus der Gemeinde stehen gegenwärtig (März 1916) im Dienste des Vaterlandes 218 Mann unter Waffen, einschließlich Verwundete und Kranke (aus Stemmen 81, Varenholz 65, Erder 72). Der Verkehr mit ihnen wird durch das geistliche Amt durch regelmäßige Briefe und Schriftsendungen aufrecht gehalten. Gegenwärtig wird das „Reformierte Sonntagsblatt“ und die Göttinger Kriegszeitschrift „Vorwärts zum

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Sieg“ versandt. Den Sendungen wird monatlich einmal ein seelsorgerischer Brief mit Nachrichten aus der Gemeinde beigefügt, welcher früher hektographiert wurde, jetzt aber im Sonntagsblatt abgedruckt wird. Die Sendungen werden stets mit Freude u. Dankbarkeit aufgenommen, wie schon ca. 1000 Briefe und Karten aus dem Felde und die Dankbesuche beurlaubter Krieger bezeugen. 5 Gemeindeglieder befinden sich gefangen in Feindesland: 2 in Russland, 1 in Frankreich, 1 in England, 1 in Japan. 1 Gemeindeglied ist auf Gotland (Schweden) interniert. 18 unserer Krieger erwarben sich bisher, soweit bekannt, das Eiserne Kreuz. Im 20. Monat ist jetzt unser liebes Vaterland umstellt von übermächtigen Feinden, welche noch immer ihre Hoffnung darauf richten, es sich verbluten zu sehen oder es wirtschaftlich zugrunde zu richten. Aber obgleich aus tausend Wunden blutend, kämpft es doch bisher siegreich weiter den Heldenkampf, der durch den Angriff auf Verdun zu Lande und durch die Heldentaten der „Möwe“ zur See(Anmerkung: Die SMS „Möwe“ war ein deutscher Hilfskreuzer.) einen neuen Aufschwung genommen hat. Psalm 42, 12.

Eintrag 15. März 1916
Den 15. März 1916
Am Sonntag, dem 12. März unternahm der Jungfrauenverein mit seiner Leiterin einen Ausflug nach Möllenbeck. Die Kirche wurde besichtigt unter Führung des Pastors Götz und des Kantors Aschebrenner, welch letzterer das herrliche Orgelwerk erklingen ließ. Bei dem geselligen Zusammensein darauf im Gasthause erzählte Pastor Götz aus der Geschichte des Klosters Möllenbeck. Der Ausflug machte allen Teilnehmern große Freude. Weitere sollen bei Gelegenheit stattfinden.

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Für die Verwirklichung der 4. Kriegsanleihe wurde auch von Seiten der Kirche gewirkt. Am 14. März 1916 fand abends 8 Uhr bei Böke eine Versammlung statt, in der Pastor Harms den Vorsitz führte. Oberamtmann Treviranus hielt einen Vortrag über das Thema: “Wie zeichnet man am besten auf die Kriegsanleihe?“ Die Versammlung war erfreulich besucht und wird hoffentlich guten Erfolg haben. Von der Kanzel, durch Schule und Konfirmanden sowie durch die Ortsvorsteher von Varenholz und Stemmen war dazu eingeladen worden. In Erder soll eine ähnliche Versammlung stattfinden mit einem Vortrage von Lehrer Fricke. Wenn man in dieser Zeit des sich verlängernden Krieges für vaterländische Zwecke wirkt, zum Aushalten ermahnt, zur Teilnahme an patriotischen Werken aufruft, so findet man freilich viel Zustimmung und keinen offenen Widerspruch, aber man merkt an einem dunklen Widerstand, daß zersetzende Kräfte u. Stimmungen durch das Volk gehen, die das Licht scheuen. Verschiedenerwärts hört man törichte Redensarten, freilich nur aus zweiter Hand, die durch ihre gleichlautende Form zeigen, dass sie auf geheimer Agitation beruhen, die vielleicht von dem radikalen Flügel der Sozialdemokratie ausgeht: “Man solle doch nicht auf die Kriegsanleihe zeichnen, denn man verlängere dadurch nur den Krieg.“ Oder: “Wenn wir auch unter französische oder russische Herrschaft kommen, so werden wir es wohl auch nicht schlechter haben.“ Die sozialen Gesetzte u. so manche anderen Wohltaten deutscher Verwaltung werden als selbstverständlich

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hingenommen. Solchen lähmenden Einflüssen muß entgegengetreten werden. Flugzeuge u. Luftschiffe überfliegen öfter unser Tal; besonders die letzteren bieten, wenn sie klar zu sehen sind, einen erhabenen Anblick.

Eintrag 26. März 1916
26. März 1916
In Sachen der Kriegsanleihe hat auch in Stemmen eine Versammlung stattgefunden, bei welcher Kantor Aschebrenner den Vortrag hielt. Die Agitation für die Kriegsanleihe hat offenbar recht guten Erfolg gehabt: Allein durch Vermittlung des Oberamtmanns Treviranus sind 9100 M gezeichnet worden, durch Vermittlung des Lehrers Fricke 1800 M, auch der Geistliche konnte Vermittlungsdienste leisten. [Randbemerk: Die Kirchengemeinde zeichnete 400 M (100 aus der Kirchenkasse u. 300 aus dem Pfarrvermögen] Viele haben auch bei der Post oder anderwärts gezeichnet. Aus der Kirchengemeinde sind jedenfalls über 20 000 M gezeichnet worden. Während bis jetzt nur Junggesellen und junge Ehemänner mit kleiner Familie gefallen sind, scheint die Reihe jetzt auch an Familienväter mit größerer Familie zu kommen. Aus Erder sind kurz nacheinander zwei Schiffer gefallen, die als Pioniere vor Verdun standen: Marten (Anmerkung: Wilhelm Marten, gefallen am 22. Februar 1916) u. Sievering (Anmerkung: Fritz Sievering, gefallen am 15. März 1916) . Vom Tode des letzteren wurde ich durch einen Brief des Hauptmanns benachrichtigt und hatte die traurige Pflicht, der Witwe u. ihren 6 Kindern, die ahnungslos um den Mittagstisch saßen, die erschütternde Botschaft zu bringen. Es war mir zu Mute, als sollte ich in ein friedliches Haus eine zerstörende Bombe werfen, - aber der schwere Gang mußte gemacht werden.

Eintrag 6. Mai 1916
Den 6. Mai 1916
Am Sonnabend, dem 29. April feierte der Schneidermeister
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August Lacour in Varenholz mit seiner Frau Henriette geb. Regetmeier das seltene Fest der goldenen Hochzeit. Die regierende Fürstin hatte dazu nach ihrer Sitte eine schöne Bibel mit eigenhändiger Einschrift gesandt. Pastor Harms überreichte dieselbe mit einer Ansprache, welcher die Einschrift der Fürstin, Psalm 23,3, zu Grunde lag. Auf seine Bitte hatte die Fürstin dem bedürftigen Paare auch eine Geldunterstützung von 20 M geschickt. Der Kirchenvorstand hatte 15 M aus der Armenkasse gespendet, der deutsche Hugenottenbund (Hotel de Refuge, Berlin) auf Fürbitte des Geistlichen 30 M, da die Familie Lacour vor Zeiten aus Frankreich, wo sie zum hohen Adel gehörte, ausgewandert ist. Diese Gaben wurden mit der Bibel überreicht. Am Abend brachte der Jungfrauenverein dem Jubelpaar ein Ständchen. Seit März d. J. wohnt der gegenwärtige Pächter der Domäne, Oberamtmann Treviranus, der bisher seinen Wohnsitz im Winter in Rinteln hatte, ganz in Varenholz, nachdem er seine Wohnung in Rinteln aufgegeben hat. Da sein Inspektor am Ende vorigen Jahrs gestorben ist, will er selbst Inspektor sein. Er ist nunmehr ganz Mitglied unserer Gemeinde und Bürger unseres Ortes. Er hat Gottes Haus lieb und versäumt selten einen Gottesdienst, steht auch in dem Rufe, für seine Leute gut zu sorgen. Seine Frau ist Engländerin von Geburt und leidet unter diesem Krieg innerlich ganz besonders. Drei seiner Söhne stehen als Offiziere beim Heer und einer ist auf Samoa in englischer Gefangenschaft.

Eintrag 7.Juni 1916
Den 7. Juni 1916
Seit dem 1. April 1915 ist das Volksschulgesetz vom 11. März 1914 völlig in Kraft getreten und die Ortsschulinspektion aufgehoben. Der Geistliche ist nicht mehr Vorgesetzter des Lehrers, hat auf den Unterricht keinen Einfluß mehr und nur für den Religionsunterricht ein gewisses Aufsichtsrecht. Der Geistliche ist dadurch von mancher Arbeit und Unannehmlichkeit befreit. Andererseits ist es beklagenswert, daß nun das segensreiche Band zwischen Kirche und Schule fast ganz zerschnitten ist. Wenn der Geistliche nicht Vorsitzender des Schulvorstandes ist (was in dieser Gemeinde nicht der Fall), so erfährt er von Schulsachen amtlich nichts und ist auf Privatnachrichten angewiesen. Bei den Schulprüfungen, die auch ihre frühere Bedeutung verloren haben, hat er nicht mehr die Leitung. Wenn er als Mitglied des Schulvorstandes denselben beiwohnt, so muß er erleben, daß der Vorsitzende, ein ganz ungebildeter Bauer, auch in den Religionsfächern bestimmt, welche Fragen des Katechismus und welche biblischen Geschichten genommen werden sollen, während er selbst als ganz einflußlos dabei sitzt. Das hebt das Ansehen des geistlichen Amtes im Volksbewußtsein nicht. Von dem Wechsel in den Personen der Lehrer bekommt er amtlich keine Kenntnis. Die Stellung der Schule zur Kirche hängt fast ganz von den wechselnden Persönlichkeiten der Lehrer ab. Der Lehrer Fricke in Erder nimmt zur Kirche eine freundliche Stellung ein: er erteilt den Religionsunterricht in seelsorgerlicher Weise, hilft gerne bei Bibelstunden in der Schule und leitet den Gesang bei Beerdigungen. Da er bisher
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nicht zum Waffendienst eingezogen ist, so herrschen in der Schule in Erder noch normale Verhältnisse. Anders steht es mit der Schule in Stemmen, an welcher eigentlich zwei Lehrer unterrichten sollten. Da der Lehrer G. Schöning bei Beginn des Krieges eingezogen wurde und jetzt als Sanitätsgefreiter im Osten steht, so unterrichtete Lehrer Solle allein, bis er im Spätherbst 1914 auch eingezogen wurde. Er wurde im Frühling 1915 von den Russen gefangen genommen und ist jetzt als Kriegsgefangener in Ostsibirien bei Wladiwostok. Sein Nachfolger L. Schöning, Bruder des G. Schöning, weigerte sich bei Beerdigungen mitzuwirken, was doch seit Menschengedenken die Lehrer in Stemmen getan haben. Das Konsistorium entschied (Febr. 1915), daß der Inhaber der Küstereistelle in Varenholz auch in Stemmen die Pflicht der Leichenbegleitung habe und es freier Wille des Lehrers sei, ihn zu vertreten. Die Folge ist, daß der Pastor manchmal die Beerdigungen allein abhalten, auch den Gesang dabei leiten muß, zumal wenn im Winter die Beerdigung an den frühen Nachmittagstunden vorgenommen werden muß, während der Lehrer in Varenholz gemäß dem Schulgesetz den Schulunterricht nicht darum ausfallen lassen darf. Nachdem der Lehrer L. Schöning, fortwährend durch Herzleiden behindert, mit dem Ende des Schuljahrs Stemmen verlassen hatte, trat dort ein junger Lehrer Fr. Schmidt ein. Dieser suchte keinerlei Beziehungen zu Kirche und Pfarramt, hielt es nicht für nötig, dem Geistlichen auch nur einen Besuch zu machen und behandelte ihn bei seinem pflichtmäßigen Besuch des Religionsunterrichtes mit so beleidigender Mißachtung,
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daß er ihn auf Veranlassung der Oberschulbehörde um Entschuldigung bitten mußte. Im April 1916 wurde Lehrer Schmidt zu den Waffen einberufen u. mit der Wahrnehmung der Stemmer Schule Lehrer Westhof betraut, der bereits im Felde gestanden hat in Waffen u. wegen eines dadurch entstandenen Nervenleidens kriegsuntauglich geworden ist. Gegenwärtig vertritt er auch den zu einer Kur gegen Asthma beurlaubten Lehrer Döhnel in Varenholz für 4 Wochen, hat also neben der Stemmer auch die Varenholzer Schule zu versehen, oder wenigstens die Oberklasse derselben, da die Unterklasse inzwischen von der Hauslehrerin Frl. Röttgers von der Domäne versorgt wird. Also recht unnormale Schulverhältnisse. Lehrer Westhof spielt gegenwärtig auch die Orgel.

Eintrag 8. Juni 1916
Den 8. Juni 1916
Am Sonntag Rogate, dem 28. Mai wurde wie im vorigen Jahre ein Bittgottesdienst für das Gedeihen der Ernte gehalten, der freilich weniger Beteiligung fand. Die dabei abgehaltene Kollekte für die Nationalstiftung für Hinterbliebene gefallener Krieger ergab 57 Mark.
Am 30. Mai ging ein großes Hagelwetter nieder, welches stellenweise schweren Schaden anrichtete. Auf der Niedernbreite und vor Erder haben die Stücke, die fast alle kleinen Leuten gehören, stark gelitten: der Schaden beträgt bis zu 50 und 75 %. Noch größer war der Schaden jenseits der Weser in Veltheim und besonders Möllbergen, wo ziemlich die ganze Ernte zerstört ist. Jes. 55, 8 – 9. Da Hagelschläge sonst ziemlich selten hier sind, pflegen die kleinen Leute nicht zu versichern. Sonst steht das Getreide gut, doch herrscht gegenwärtig starke Nässe.
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Am 30. Mai, dem Geburtstag des Fürsten [Anmerkung: Leopold IV., letzter regierender Fürst im Fürstentum Lippe; Abdankung im November 1918.], wurde abends in der Kriegsbetstunde in der Kirche die silberne Verdienstmedaille dem Schafmeister Wallbaum, dem Weidehirten Gerke und dem Hofmeister Meier überreicht, welche 48, 42 und 40 Jahre im Dienste der Domäne stehen.
Am 2. Juni hatten wir nach langer Zeit wieder einmal Gelegenheit die Fahne aufzuziehen und die Siegesglocken zu läuten. Im Konfirmandenunterrichte stehend schickte mir der Apotheker Hölscher ein Zeitungsblatt mit der Nachricht von unseren großen Erfolgen in der gewaltigen Seeschlacht (31. Mai) vor dem Skagerrak, die vielleicht eine Wendung in der Weltgeschichte bedeutet. Ich ließ die Kinder „Nun danket alle Gott“ singen und sprach ein Dankgebet.
Bei dem wachsenden Fleischmangel sind die Leute hier wesentlich auf ihr Eingeschlachtetes angewiesen, womit freilich jede Familie versehen ist. Von den beiden hiesigen Schlächtereien hat die eine den Betrieb eingestellt, die andere bekommt nur selten ein Schlachttier überwiesen. Das Schweinefleisch war Ende 1914, als so viele Tiere abgeschlachtet wurden, am billigsten. Im Januar 1915, als die Preise schon etwas gestiegen waren, konnte ich doch noch ein Schwein für 57 M pro Centner Schlachtgewicht kaufen. Jetzt sind die Preise ungeheuer gestiegen. Ferkel sind sehr teuer. Während ich noch im Mai 1915 von Landwirt Hanke hier ein Paar für 32 M kaufte, mußte ich im April 1916 an Vorsteher Stocksmeier in Erder für ein Paar 100 M bezahlen. Auch das übrige Vieh ist teuer. Im Mai 1915 kaufte ich eine gute Ziege für 25 M, heute
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müßte ich mindestens 60 M bezahlen, wenn es gelänge, eine zu bekommen. [Randbemerk: (Im Juli 1916 kaufte ich eine von Nalhof bei Bösingfeld für 60 M.) Jetzt (Sommer 1917) kosten Ziegen 120 – 150 Mark]
Die ernste Auffassung des Krieges als eine Straf- und Zuchtrute ist weit verbreitet. Oft hört man besonders von älteren Leuten: “Es mußte ja so kommen; die Menschen waren ja zu übermütig u. gottlos geworden.“
Kettengebete und Himmelsbriefe spielen auch in diesem Kriege vielfach eine Rolle. Zu Anfang des Krieges wurde mir einmal ein solches „Gebet“ übergeben, welches die Weisung erhält, es neunmal abzuschreiben u. zu verschicken, mit dem Versprechen, daß man dann am neunten Tage eine große Freude erleben werde, und der Drohung, daß die, welche es nicht täten, kein Glück mehr haben würden. Dabei erfuhr ich, daß sie in der Gemeinde vielfach umliefen, und erließ eine Warnung von der Kanzel dagegen. Die Drohung, die mit abergläubischer Furcht erfüllt, mag die Leute vielfach zum Abschreiben bewegen, doch haben sie das Gefühl, daß es nicht ganz richtig sei, da es der Seelsorger selten erfährt.
„Himmelsbriefe“ mit dem Versprechen, unverwundbar zu machen, mögen auch manche unserer Krieger bei sich tragen, doch regt sich auch die Kritik. Ein Krieger schrieb mir: „Ich habe schon viele Kameraden hier getroffen, die Himmelsbriefe tragen, u. sind doch gefallen, denn das Sprichwort heißt: „Wir fürchten Gott, sonst nichts auf der Welt. Und da kann man an sehen, daß der Brief auf der Brust keinen Wert hat.“ Aber vielfach wird diese Sammlung von Unsinn und frommen Redereien mit wahrer Frömmigkeit verwechselt. Gestern besuchte ich gar eine Frau, die einen Himmelsbrief vorne in
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das ihr bei der Trauung übergebene Neue Testament geschrieben hatte als etwas sehr kostbares. Der bei Antritt des neuen Geistlichen sehr gebesserte Kirchenbesuch hat naturgemäß in der Weise nicht angehalten. Doch ist er, wie auch die Kollekten zeigen, entschieden weit besser als in früheren Zeiten. Der Besuch der Kriegsbetstunden [Randbemerk: (30 – 40 Besucher)] hat sehr nachgelassen u. geschieht fast nur von Frauen. Die gelegentlichen Bibelstunden in den Außendörfern sind in Erder [durchgestrichen: (sehr)] gut besucht, in Stemmen sehr gering (das letzte Mal, 4/6., nur 12 Personen). Die Meinung, daß das nur für alte, schwächliche Personen sei, die die Kirche nicht besuchen können, ist schwer auszurotten. Für den von den Behörden eingerichteten Goldankauf wurde durch Bekanntmachung von der Kanzel mitgewirkt.

Eintrag 22. Juli 1916
Den 22. Juli 1916
Am 4. Juli wurde mir durch Vermittlung von Pastor Ruperti in Lüdenhausen die Summe von 216 M übersandt von Karl Bekemeier in Hubbard, Staat Iowa, Nordamerika. [Randbemerk: Vgl. Aktenstücke Sammlungen u. Wohltätigkeit Nr. 27 – 29)] Diese Summe war von in Hubbard ansässigen ausgewanderten Stemmern (Anmerkung: ehemalige, ausgewanderte Bewohner des zum Kirchspiel Varenholz gehörenden Dorfes Stemmen) gesammelt und zur Unterstützung von Kriegs-Witwen und Waisen in Stemmen bestimmt. Andere Lipper (Anmerkung: ehemalige, ausgewanderte Bewohner des Fürstentums Lippe) in Hubbard hatten für ihre Heimatorte gesammelt, u. so war im ganzen die Summe von 1500 M an Pastor Ruperti gelangt. Von den 216 M wurden an 4 Kriegswitwen je 20 M gegeben, das Übrige einstweilen zur Sparkasse gebracht. Die Anhänglichkeit der amerikanischen Lipper ist eine Herzstärkung. Dem Absender will ich ein Dankschreiben schicken, das vermutlich mit einem unserer neuen Handelsuntersee-
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boote sicher hinüberkommen wird.
Der Sommer ist weiter naß und kalt. Seit einigen Tagen hat wenigstens der Regen nachgelassen, doch ist selten Sonnenschein. Die Heuernte ist schlecht hereingekommen, zum Teil noch nicht eingebracht. Die Kartoffeln sollen schon an Krankheit leiden. Die Kornernte steht vor der Tür. Möchte doch gutes Wetter herrschen! Mit verhaltenem Atem lauschen wir nach der Somme (Anmerkung: "Schlacht an der Somme"; englische Offensive an der Westfront 24. Juni - 26. November 1916), wo unsere Tapferen dem furchtbaren Ansturme der Engländer und Franzosen bisher stand hielten, ebenso nach Rußland (Anmerkung: "Brussilow Offensive" in Galizien gegen den deutschen Verbündeten Östereich-Ungarn; 4. Juni - 20. September 1916). Doch begreifen wohl nur wenige die ganze entscheidende Bedeutung dieser Tage.

Eintrag 7. August 1916
Den 7. Aug. 1916
In den letzten Tagen des Juli ist trockenes, sonniges Wetter eingetreten. Gott sei Lob und Dank. Die Heuernte wurde beendet, u. die Kornernte, später wie sonst, hat überall begonnen. Überall im Tal u. an den Höhen stehen die Hocken, und Vieles ist schon eingefahren. Gott lasse das Erntewetter noch einige Zeit anhalten! Heute freilich ist es wieder trübe.
Gestern, Sonntag, gedachten wir im gut gefüllten Gotteshause des Kriegsanfanges vor 2 Jahren. Die Kriegervereine der 3 Dörfer waren auf meine Einladung mit ihren Fahnen erschienen. Die Predigt geschah über Jes. 40, 26 – 31. An den Prichen sind die Namen der Gefallenen angebracht, deutlich auf weiße Papptafeln gemalt, mit dem Datum ihres Todes. Die Arbeit ist sauber ausgeführt von Heinrich Schreyer, Sohn des Sattlers Schreyer hier, Gefreiter im Gefangenenlazarett in Holzminden. Die
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Namen der Gefallenen aus Varenholz (3) hängen vor der Orgelpriche, den Stemmern (8) sind entsprechende Denkmäler an der Stemmer Priche (nördlich) bereitet, den aus Erder Gefallenen (12) an der Erderschen Priche (südlich). Die Mädchen des Jungfrauenvereins haben für jede Tafel einen Eichenkranz gewunden, der den Namen umgibt, mit einer Schleife in den deutschen Farben. Diese Denkmäler sollen nach Bedarf ergänzt werden und so lange bleiben, bis einst nach dem Kriege eine würdige Gedächtnistafel angefertigt wird. In einem Falle (Hermann Schöttker) verbaten sich die Angehörigen das Anbringen des Namens, weil sie trotz der amtlichen Nachricht gegen alle Vernunft noch auf eine Heimkehr des Sohnes hoffen. [Anmerkung: Hermann Schöttker ist mit dem Todesjahr 1915 auf dem Varenholzer Kriegerdenkmal zu finden.]

Eintrag 8. August 1916
Den 8. Aug. 1916
In der heutigen Kriegsbetstunde, abends 8 Uhr, sank die Besucherzahl auf die bisher niedrigste Ziffer: 16. Es war vorzüglichstes Erntewetter u. die Ernte überall im vollen Gange. Und die Früchte des Feldes bergen ist jetzt auch vaterländische Pflicht, der manche anderen nachstehen müssen. Das Konsistorium hat daher auch die Geistlichen aufgefordert, um der Not der Zeit willen der Erntearbeit am Sonntag, wenn sie außer der Zeit des Gottesdienstes geschieht, sich nicht zu widersetzen. Hoffentlich leidet aber die Volksseele keinen dauernden Schaden davon.

Eintrag 1. September 1916
Den 1. Sept. 1916
Vor einigen Tagen wurde die Kriegserklärung Rumäniens [Anmerkung: Rumänien–Feldzug 27. August 1916 – 7. Januar 1917] bekannt. Eine neue schwere Belastung unseres von allen Seiten umstellten Landes. Werden wir sie ertragen können, da auch die Österreicher schon erschüttert scheinen?
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Gott weiß es; wir haben keinen Freund mehr als ihn allein. Der Kaiser hat Hindenburg an die Spitze des großen Generalstabes gestellt. [Anmerkung: 29. August 1916 Ablösung Falkenhayns durch Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff.] Ob er die schwere Arbeit schaffen wird? Wie mag es in einem Jahr aussehen? Uns ist bange, aber wir verzagen nicht.

Eintrag 4. September 1916
Den 4. Sept. 1916
Gestern, am 3. Sept., war unser Missionsfest. War am vorigen Missionsfest ausgesprochen worden, daß ein Missionsfest im Kriege gewiß nur einmal vorkommen würde, so ist diese Erwartung leider zunichte geworden. Die Festprediger waren Pastor Hoops aus Grambke bei Bremen, welcher über Joh. 7, 33 – 39 predigte und in der Einleitung erzählte, wie er das Handels-U-Boot „Deutschland“ auf seiner Rückkehr von Amerika die Weser herauffahren sah, und Pastor Thelemann aus Silixen, der von den Kriegsleiden der Eva-Mission erzählte. Die Beteiligung war weit geringer als das letzte Mal. Bereits am Vormittag, wo Pastor Harms über die Mission predigte (Marc. 1, 16 – 18), war auch Kollekte und Schriftenverkauf. Die Kollekte betrug im ganzen 138,70 M, welche der Norddeutschen Mission in Bremen zugute kommen. Es wurden für 8 M Schriften verkauft.

Eintrag 2. Oktober 1916
Den 2. Okt. 1916
Mitte September wurde die 5. Kriegsanleihe aufgelegt. Zu der Werbung dafür wurde der Pastor Vertrauensmann und ließ es an Werben auf der Kanzel und privatim nicht fehlen. Die Arbeit war aber erschwert, weil die geheime Gegenarbeit, die sich schon bei der 4. Anleihe bemerkbar machte, sich diesmal verstärkt zeigte. Die Redensart, „wer Kriegsanleihe zeichnet,
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verlängert nur den Krieg“, macht darum auf die Gemüter so großen Eindruck, weil sie zum Teil in Feldbriefen von kriegsmüden und unverständigen Soldaten geschrieben wird. Eine Versammlung in Varenholz am 20. Sept., bei der Lehrer Tölle aus Schwalenberg sprach, fand darum nur die geringe Beteiligung von höchstens 20 Leuten, und eine solche am 24. Sept. in Erder, bei welcher der Pastor sprach, war nicht besser besucht. [Randbemerk: (Die Kirchengemeinde zeichnete 1500 M; 1200 aus der Armenkasse, 300 aus der Kirchenkasse)] Manche mögen ja trotzdem zeichnen, aber sie scheuen sich nach Bauernweise, es offenbar werden zu lassen, um nicht als Kapitalisten zu gelten. Eine Sehnsucht nach Frieden um jeden Preis ist weit verbreitet; die Leute ahnen nicht, daß ein ungünstiger Friede den Ruin des wirtschaftlichen Lebens und der Erwerbsmöglichkeiten bedeuten würde.
Wie der Kaiser so hat auch der Fürst den Familien der gefallenen Krieger künstlerisch ausgestattete Gedenkblätter gewidmet. Diese wurden dem Pastor in einer Sendung übersandt und von ihm am 24. Sept. in einer besonderen Feier in der Kirche, im Anschluß an den Gottesdienst, verteilt. Nach einer im August 1915 ergangenen Verfügung des Konsistoriums sollten alle älteren Kirchenbücher (bis 1800) dem Landesarchiv in Detmold übersandt werden. Diese Verfügung fand in vielen Gemeinden Widerwillen, besonders in den abgelegenen, von denen die Benutzung der Kirchenbücher im Archiv unmöglich ist, während sie doch für die Gemeindegeschichte von Wichtigkeit sind. Auf mancherlei Gegenvorstellungen wurde die Verfügung dahin ermäßigt, daß
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denjenigen Gemeinden gestattet wurde, ihre alten Kirchenbücher zu behalten, welche bis zum 1. Okt. 1916 sich feuer- und diebessichere Schränke beschaffen. Infolgedessen hat auch unsere Gemeinde sich für 103 M von der Firma Hermann Noel jr. In Essen – Rüttenscheid einen eisernen Schrank zum Einmauern in die Wand angeschafft. Das Einmauern kann freilich erst später stattfinden. Im Herbst 1916 fand eine Zählung der Gottesdienstbesucher statt, in der Weise, daß die Anzahl der Geldstücke im Klingelbeutel festgestellt wurde. Darnach waren:
am 10. n. Trin., 27. Aug., 155 Besucher
am 11. n. Trin., 3. Sept., 212 Besucher
am 13. n. Trin., 17. Sept., 194 Besucher
am 14. n. Trin., 24. Sept., 234 Besucher
am 15. n. Trin., (Erntedankfest),
1. Okt., 261 Besucher
Durchschnitt 213.

Eintrag 14. Oktober 1916
Den 14. Okt. 1916
Am Donnerstag, dem 12. Oktober, fand (anstatt der Kriegsbetstunde des Dienstags) ein recht gut besuchter Abendgottesdienst statt, bei dem Pfarrer Lic. Bräunlich aus Berlin für die Sache des Evangelischen Bundes warb und insbesondere auf die „Ostdeutsche Ansiedlerhilfe“ hinwies, die als Genossenschaft mit beschränkter Haftpflicht deutsche evangelische Bauern an der Ostgrenze ansiedeln will. Die Kollekte für diesen Zweck betrug 72,10 M. Mehrere Gemeindeglieder traten dem Ev. Bunde bei, auch für die Ansiedlerhilfe wurden Anteilscheine gezeichnet. [Randbemerk: bis Ende des Jahres 18 Mitglieder gewonnen.]

Eintrag 2. November 1916
Den 2. Nov. 1916
Im August 1915 wurde vom Konsistorium angeordnet, daß die bis zum Ende des 18. Jahrhunders [sic] reichenden Kirchenbücher zum Zwecke größtmöglicher Sicherung an das Haus-
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und Landesarchiv in Detmold zur Aufbewahrung zu überweisen seien. Diese Verfügung rief bei manchen Gemeinden Proteste hervor, da man das alte Gut, das für die Orts- und Gemeindegeschichte wichtig ist, nicht gerne herausgeben wollte. Das Konsistorium verfügte darauf, daß denjenigen Gemeinden die alten Kirchenbücher zu belassen seien, die sich bis zum 1. Okt. 1916 einen feuer- und diebessicheren Schrank beschaffen würden. Die Kirchengemeinde Varenholz kaufte darum im Sept. 1916 von der Firma H. Noel jun., Essen-Rüttenscheid, einen eisernen Schrank zum Einmauern für 103 M. Wegen der damit verbundenen Kosten und Umstände wurde aber das Einmauern bis auf weiteres aufgeschoben. Da nun der Schrank ohne Einmauern nicht feuersicher ist, so verfügte das Konsistorium unter dem 20. Okt. 1916, Nr. 2504, daß die betr. Kirchenbücher einstweilen dem Archiv zu überweisen seien. „Wir werden aber, sobald ein unserer Verfügung vom 13. März d. J. Nr. 764 entsprechender Aufbewahrungsraum beschafft sein wird, auf dortseitigen Antrag das Fürstliche Haus- und Landesarchiv anweisen, die ihm überwiesenen Kirchenbücher dem Presbyterium wieder zu verabfolgen.“ Daraufhin wurden heute die beiden ältesten Kirchenbücher, die Jahre 1697 bis 1827 umfassend, dem Archiv übersandt.

In der 1. Adventswoche konnten wegen der Schlacht am Arges und der Einnahme von Bukarest (6. Dez.) nach langer Pause zweimal wieder die Glocken
geläutet werden. [Anmerkung: 1. – 5. Dezember 1916 Schlacht am Argesfluß; 6. Dezember 1916 Einnahme von Bukarest.]

Eintrag 2.Januar 1917
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Den 2. Jan. 1917
Mit Sturm, Regen und Finsternis hat gestern das Jahr 1917 begonnen. Wird es auch in Nacht u. Grauen enden? Gott hat uns in der Weihnachtszeit noch den
schönen Sieg in Rumänien bei Ramnien-Sarat beschert. Aber die Friedenshoffnungen die sich an das Friedensangebot unserer Regierung knüpften [12. Dezember 1916 Angebot der Mittelmächte, Verhandlungen über eine Beendigung des Krieges einzuleiten, durch den deutschen Reichskanzler von Bethmann Hollweg.], scheinen zu zerflattern, u. im Frühjahr wird wohl ein letzter, aber gigantischer Versuch zu Lande u. zu Wasser gemacht werden, uns zu erdrücken. Inzwischen dringt der Krieg in alle Verhältnisse ein: Kurz vor dem Feste mußte der Kirchendiener das Geläut abkürzen, weil die Glocken wegen mangelnden
Schmieröls zu schwer gingen. Glücklicherweise gelang es noch rechtzeitig, einen kleinen Vorrat zu bekommen. Kohlen und Heizmaterial sind nicht nur
sehr teuer, sondern auch sehr schwer zu bekommen, auch Holz aus dem Walde. Wegen Kohlenmangel u. auch wegen Sturmschäden versagte am 23. u. 24. Dez. das elektrische Licht, was dem studierenden Prediger besonders empfindlich ist, da auch Petroleum und Kerzen knapp sind. Die Christbaumbeleuchtung
mußte überall sehr eingeschränkt werden, doch brannten in der Kirche am Weihnachtsabend u. Sylvesterabend zwei Christbäume wie gewöhnlich.
Nicht nur Kleidung sondern auch neues Schuhwerk ist nur gegen Erlaubnisschein zu haben. Kurz vor der Anordnung machte mir ein Langenholzhauser
Schuhmacher noch ein Paar gute Zugstiefel, die aber 27 M kosten, das doppelte wie sonst. Reparaturen sind sehr schwer zu bekommen, da die
meisten Schuhmacher eingezogen sind. Für Varenholz u. Stemmen ist nur ein Kriegsbeschädigter u. beschränkt arbeitsfähiger Schuhmacher

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in Stemmen vorhanden. Die Dauer der Sohlen sucht man zu verlängern durch Unternageln von Stückchen Abfallleder, die nach Abnutzung erneuert werden
können, oder durch Beschlagen mit Nägeln. In manchen Häusern werden solche Arbeiten vom Hausvater oder der Hausfrau selbst ausgeführt. Mehr wie
sonst benutzt man wieder Holzschuhe. Während in den großen Städten der Hunger bereits ein täglicher Gast ist, sind hier auf dem Lande noch genügend Lebensmittel, dank den Vorteilen, welche den Erzeugern u. Selbstversorgern zugestanden sind. Manche Lebensmittel werden auch durch Verstecken u. zu geringe Angaben bei der Bestandsaufnahme verhehlt und zurückgehalten. Die stetig wechselnden und in ihrer Fülle bereits ganz unübersehbaren Verordnungen u. Gesetze zum wirtschaftlichen Durchhalten werden durch die verschiedensten Künste täglich übertreten, was die allgemeine Achtung vor dem Gesetz nicht fördert. Verschiedene Nahrungs- und Gebrauchsmittel sind kaum mehr zu bekommen: z.B. Seife (manche Hausfrauen versuchen aus Fettrückständen selbst Seife zu bereiten), Zucker, Pfeffer, Kaffee, Tee (im Pfarrhause wird Brombeerblätter-Tee getrunken). Immer wieder wird auf sparsames Wirtschaften mit Kartoffeln hingewiesen, deren Ernte zu gering gewesen ist. [Randbemerk: Mit Stücken Seife macht man sich in befreundeten Familien wertvolle und erwünschte Geschenke.] Die eigentliche Not wird wohl im Frühling beginnen, wenn die Lebensmittel noch weiter verbraucht sind u. das Land noch nichts hervorbringt. Die Stimmung der Leute im allgemeinen ist ergeben, wenn auch nicht immer zuversichtlich. Die Notwendigkeit des Aushaltens wird eingesehen. Doch machen sich auch törichte sozialdemokratische Stimmen bemerkbar, die etwa sagen:

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„Der Krieg ist ein Kapitalistenkrieg; wir, die wir nur unsere Arbeitskraft haben, werden nicht schlechter dran sein, wenn wir unter fremde Herrschaft kommen, während der Krieg uns nur unsere Gesundheit u. Arbeitskraft schädigt.“ Solche ehrlosen u. unverständigen Stimmen gilt es entgegenzutreten. Seit Herbst 1915 werden schon die 18jährigen Jünglinge zum Waffendienst eingezogen, darunter oft Leute mit wahren Kindergesichtern. Unter den Älteren sind manche schwächliche und kränkliche. Das ist des Vaterlands Not! Heute wird auch die ablehnende Antwort der Feinde auf unser Friedensangebot bekannt. [Anmerkung: 31. Dezember 1916 Ablehnung des deutschen Friedensangebotes durch die Alliierten.] So soll also das große Ringen in verstärkten Maße weitergehen. (Psalm 46, 2-4).
Der Besuch der Kriegsbetstunden ist seit dem Aufhören der landwirtschaftlichen Arbeiten wieder auf 30 – 40 Personen gestiegen. Mit der Kirchenbeleuchtung
muß sehr gespart werden. Bei dem Besuch der Gottesdienste merkt man sehr das Fehlen der Hunderte von Männern in den besten Jahren; doch ist bei den übrigen die Liebe zu Gottes Wort noch nicht genug erwacht. Die Beteiligung am heiligen Abendmahl hat zugenommen, zuletzt auch das Verlangen der Kranken darnach; so war wohl der öftere Hinweis auf die Wichtigkeit des Sakramentes in der Predigt nicht vergeblich. Der Jungfrauenverein, unter Leitung der Pfarrfrau betätigt sich in den Festgottesdiensten weiter durch Chorgesang. Der Ertrag der Kirchenkollekten, deren Zahl sehr zugenommen hat (1916: 26), war im letzten Jahre erfreulich. Der Vaterländische Frauenverein, dessen zweite Vorsitzende seit 1916 die Pfarrfrau ist, hat auch diesmal wieder alle

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Krieger aus Varenholz u. Stemmen mit Weihnachtspaketen bedacht, obwohl die Kosten u. Materialien (z.B. Mehl) dazu schwer aufzubringen waren. Er hat etwa 180 Pakete versandt. Im Waffendienste für das Vaterland stehen gegenwärtig aus der Gemeinde 254 Mann (Stemmen 97, Varenholz 80, Erder 77), welche alle regelmäßig vom Seelsorger mit Lesestoff versorgt werden. Im Schreiben der Adressen stehen ihm 5 junge Mädchen aus Varenholz zur Seite. Eine Anzahl von Kriegern, die aus der Gemeinde stammen, aber nicht mehr in ihr wohnen, werden auf ihren oder der Angehörigen Wunsch mit versorgt, so daß im
ganzen 271 auf der Liste stehen. Im Jahre 1916 forderte der Krieg 6 Opfer, die auswärts fielen oder starben, 1, der in der Heimat am Schlaganfall starb. Im
ganzen fielen bisher 26 Opfer, davon 14 aus Erder. Außerdem werden 4 vermißt, 7 sind gefangen, 1 interniert, 3 sind wegen Straftaten im Gefängnis. 23 erwarben sich, soweit bekannt, das Eiserne Kreuz. Mehrere sind wegen Kriegsbeschädigungen oder Krankheit als dienstuntauglich entlassen; eine große Anzahl liegt krank oder verwundet in Lazaretten.

Eintrag 21. Januar 1917
Den 21. Jan. 1917
Am 16. Januar starb in Stemmen der aushilfsweise beschäftigte Lehrer Karl Westhof, erst 21 Jahre alt. Er war durch einen Unfall bei der Ausbildung zum
Waffendienst herz- und nervenleidend u. dadurch zur Verwendung im Felde untauglich geworden. Eine Lungenentzündung raffte ihn innerhalb 8 Tagen dahin,
da sein Herz zu wenig widerstandsfähig war, was er freilich durch übermäßiges Zigarettenrauchen zum Teil selbst verschuldet hat. Der Seelsorger besuchte ihn auf seinem letzten Lager u. stärkte ihn durch Zuspruch u. Gebet. Er wurde in

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Detmold begraben. Er ist seit Kriegsausbruch der vierte Hilfslehrer in Stemmen, da der Hauptlehrer im Felde steht. Da er durch sein Leiden sein Amt nur unvollständig versehen konnte, auch öfter aussetzen mußte, da gegenwärtig überhaupt keine Schule in Stemmen gehalten werden kann, so ist die Gefahr
einer Verwilderung der Jugend im Steigen.

Eintrag 29. Januar 1917
Den 29. Jan. 1917
Gestern fand durch das ganze Reich ein Opfertag für Soldatenheime statt. Für unsere Gemeinde wurde der Vaterländische Frauenverein mit der Ausführung
beauftragt, der sich zu diesem Zwecke mit dem Jungfrauenverein verband. 16 Mitglieder des letzteren stellten sich zum Sammeln zur Verfügung, um in 8
Gruppen von je zwei Sammlerinnen zu gehen. Hierzu war Stemmen und Erder in je 3 Bezirke, Varenholz in 2 eingeteilt. In der Kirche wurde kräftig auf die
Sammlung und auf den wichtigen Zweck, den Soldaten das Heim zu ersetzen, hingewiesen und um freundliche Annahme der Sammlerinnen gebeten. Diese
holten sich nach dem Kaisergeburtstagsgottesdienst, in dem sie auch im Chor gesungen hatten, im Pfarrhause die Abzeichen (weiße Armbinden mit Inschrift)
und die gestempelten Listen u. gingen dann mit Freudigkeit an ihre Arbeit. Diese war von erfreulichem Erfolge gekrönt. Es wurden gesammelt: in Stemmen 81,50 M, in Varenholz 119,- M, in Erder 108,15 M, Sa. 308,65 M. In der größeren Nachbargemeinde Langenholzhausen, wo die Mitglieder des Jungfrauenvereins auch sammelten, kamen fast 500 M zusammen.

Eintrag 13. Februar 1917
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Den 13. Februar 1917
In der zweiten Januarwoche setzte starker Frost ein, der 4 Wochen anhielt und besonders in den ersten Tagen des Februar auf über 20 Grad Celsius stieg. Es
war die größte Winterkälte seit langen Jahren. [Randbemerk: Leider sind vielen Leuten die Kartoffeln erfroren, was eine in diesen Zeiten unersetzliche Schädigung
der Volksernährung bedeutet, deren Umfang sich jetzt noch nicht übersehen läßt.] Bei dem großen Kohlenmangel litt alles unter der Kälte, freilich hier auf dem Lande nicht so sehr wie in den Städten, weil hier mehr Brennholz zur Verfügung steht. Allerdings sind die Holzpreise auf das doppelte der Friedenspreise
gestiegen. Fast überall mußten die höheren Schulen (z.B. in Rinteln) u. auch manche Volksschulen auf bestimmte oder unbestimmte Zeit des Kohlenmangels
wegen geschlossen werden. So wurde am 4. Febr. auch die Varenholzer Schule für 14 Tage geschlossen. Wegen der schweren Heizbarkeit des Konfirmandenzimmers u. der unverhältnismäßigen Menge der Feuerung, die zur Erwärmung nötig gewesen wäre, mußten leider auch mehrere Konfirmandenstunden ausfallen. Aus demselben Grunde brannte auch das elektrische Licht nur sehr unregelmäßig u. versagte oft dann, wenn man es am
meisten nötig hatte.
Am 7. Februar starb unser treuer Kirchendiener (zugleich Totengräber) Wilhelm Vietmeier, 76 Jahre alt, nachdem er sich beim Grabmachen auf dem Friedhofe
bei strenger Kälte eine Erkältung zugezogen. Er war Kirchendiener seit dem 1. April 1911 und hatte noch am Sonntag, dem 4. Februar, seinen Dienst verrichtet,
ein Mann von christlicher Gesinnung, seltener Pflichttreue u. rührender Bescheidenheit. Am folgenden Sonntag wurde er begraben, mit einer Leichenrede
über Psalm 84, 11.

Eintrag 18. Februar 1917
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Den 18. Febr. 1917
Auf der Domäne sind seit Herbst (Dez.) 1916 8 Gefangene in Arbeit: 7 Franzosen und 1 Belgier, ständig von einem Landsturmmann überwacht. Sie arbeiten
ziemlich fleißig, genießen auch viel Freiheit. Oft gehen sie unbewacht im Orte umher und sprechen mit den Einwohnern. Am Schlittenfahren der Jugend
vom Kirchberge herab haben sie gelegentlich teilgenommen. Eine Zeitlang war auch ein Araber aus Algier unter ihnen, der aber in der kalten Zeit arbeitsunfähig
war und abgelöst wurde. Landwirt Münstermann hat auch einen Gefangenen: zuerst einen Russen, der sich aber bei der starken Kälte weigerte, zu arbeiten, dann einen Franzosen aus Lille, der zufriedenstellend arbeitet. Die Gefangenen werden gut behandelt; man hört von Seiten der Bevölkerung kein schmähendes Wort, geschweige daß Mißhandlungen vorkämen.
Am 15. Februar, abends ½ 10 Uhr war ein Nordlicht zu sehen: am Nordhimmel schossen mäßig helle, aber deutlich sichtbare Strahlen empor, etwa nach ¼
Stunde war die Erscheinung verschwunden. Es war eine klare Frostnacht. Heute kommt die Nachricht, daß in Rinteln die Schwarzen Pocken ausgebrochen
sind. Doch scheinen die Fälle gutartig und die Gefahr nicht groß zu sein, da das Gymnasium morgen den Unterricht wieder aufnimmt.

Eintrag 26. Februar 1917
Den 26. Febr. 1917
In Rinteln sind die Schüler u. Schülerinnen der höheren wie niederen Schulen amtlich geimpft, u. viele Privatpersonen haben sich freiwillig impfen lassen.
Auch hier lassen

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sich manche impfen, besonders solche, die viel Verkehr nach Rinteln hin haben. Gestern, Sonntag, den 25. Febr. 1917 fand im Saal von Dohme eine vom Hilfsausschuß zur Volksaufklärung im Kriege veranstaltete Versammlung statt, die auch die bevorstehende 6. Kriegsanleihe vorbereiten sollte. Sie war sehr gut
besucht, vor allem auch von Frauen, die besonders eingeladen waren. Das Thema der Versammlung hieß: “Unsere Kriegsaussichten.“ Zwei Vorträge wurden gehalten: Herr cand. Phil. Eiserwag, Kriegsbeschädigter und Hauslehrer in der Familie Treviranus, sprach über „Unsere militärischen und politischen Aussichten“, wobei er die Geschichte des Krieges streifte und den gegenwärtigen Stand desselben feststellte. Pastor Harms sprach über „Unsere wirtschaftlichen u. finanziellen Aussichten“, wobei er nachwies, daß wir auch im Inneren besser stehen, als unsere Feinde und die Lasten des Krieges, so schwer sie sind, wohl tragen können, wenn es gilt die höchsten Güter zu wahren. Herr Oberamtmann Treviranus sprach ein begeistertes Schlußwort, worauf die Versammlung stehend sang: „Wir treten zum Beten“. Am Nachmittag desselben Tages fand in Stemmen eine gut besuchte Versammlung zum gleichen Zwecke statt, bei der Herr Landtagsabgeordneter
Lehrer Kuhlemeier aus Heidelbeck sprach, der einige Zeit vorher auch in Erder eine Versammlung gehalten hatte.

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Eintrag 4. März 1917
Den 4. März 1917
Da der Kohlenmangel immer größer wird, wegen des Wagenmangels u. vielleicht noch mehr, weil unser Land auch die neutralen Reiche Holland, Schweden, Schweiz mit versorgen muß, so müssen wir unsere Kirchenheizung für den Rest des Winters einstellen. Heute war noch ein wenig geheizt, und etwas Feuerung ist noch für den Konfirmationstag aufgespart. So dringt der Krieg mehr u. mehr auch ins Innere der Kirche. Er wird noch mehr hineindringen, da die Orgelpfeifen u. neuerdings auch die Kirchenglocken bereits beschlagnahmt sind.

Eintrag 7. März 1917
Den 7. März 1917
Zum ersten Male steuerte die Jugend der Gemeinde etwas zur Gustav Adolf- Kindergabe bei, dadurch daß die Konfirmanden zu Gaben dafür veranlaßt wurden. Sie brachten 30 M auf, welche zur Gustav Adolf-Jugendstiftung 1917 für evang. Waisen- u. Erziehungshäuser verwandt wurde. Im übrigen wird für den Gustav Adolf-Verein vom Geistlichen persönlich unter Überreichung des letzten Jahresberichtes bei Gelegenheit gesammelt, und zwar mit gutem Erfolge.

Eintrag 29. März 1917
Den 29. März 1917
Am 25. März beschloß der Kirchenvorstand, den Maurermeister Wilhelm Beckmann als Kirchendiener anzustellen, und zwar mit einem Jahreslohn von 350 M, während Vietmeier 250 M bezogen hatte. Eine alte zinnerne Taufschale von 900 g Gewicht, ohne Kunstwert, wurde an die Sammelstelle in Brake freiwillig abgeliefert und der dafür ausbezahlte Betrag von 5,40 M für die Kirchenkasse angelegt.

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Eintrag 2. April 1917
Den 2. April 1917
Bei der gestrigen Abendmahlsfeier wurde zum ersten Male das Brot aus Weizenschrotmehl verwendet, da es jetzt kein anderes Weißbrot mehr gibt. Es hat fast die Farbe des gewöhnlichen grauen Roggenbrotes und ist auch fast so fest wie dieses. So greift der Krieg selbst in unsere Abendmahlsfeiern hinein. Jetzt hat zum ersten Male ein Glied der Gemeinde das Eiserne Kreuz 1. Klasse erworben, nämlich Oberleutnant Hans Treviranus, 15. Inf. Reg., 12 Komp. [Randbemerk: (23.10.17 am Damenwege gefangen genommen).] Er lag seit Wochen mit seinem Regiment auf der heiß umstrittenen Höhe 304, westlich von Verdun. Der Feind hielt sich noch auf einem östlich anschließenden schmalen Höhenrücken, von wo er den Unseren bedeutenden Schaden tun konnte. Treviranus hatte Befehl, mit seiner Kompanie und einer des Nachbarregiments diesen Rücken zu nehmen u. führte am 18.3. diesen Befehl in einem glänzenden Sturme aus. In den nächsten Tagen hatte er die gewonnene Stellung gegen heftige Gegenangriffe des Feindes zu halten, was unter schweren feindlichen Verlusten geschah, und dann noch längeres heftiges Vergeltungsfeuer über sich ergehen zu lassen. Ein Drittel der Kompanie ging dabei zu33 grunde, aber die Stellung wurde gehalten. In den folgenden Ruhetagen hielt der kommandierende General eine Parade über die tapfere Schar ab, überreichte 48 Leuten das Eiserne Kreuz 2. Klasse, eine ungewöhnlich hohe Zahl, und dem Führer das Eiserne Kreuz 1. Klasse. (Nach einem Briefe des Letzteren an mich).

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Eintrag 15. April 1917
Den 15. April 1917
Im Frühling 1917 wurden wieder die Besucher des Gottesdienstes gezählt, und
zwar an 5 Sonntagen. Vgl. S. 31.
Sonntag Oculi 11. März, 219 Besucher
Sonntag Laetare 18. März 180 Besucher
Sonntag Judica 25. März (Konfirmandenprüfung) 396 Besucher
Ostersonntag 8. April 325 Besucher
Quasimodogen. 15. April 193 Besucher
Durchschnitt 262
Da unsere Glocken beschlagnahmt sind und uns wohl über kurz oder lang genommen werden, so wurde ihr Bestand zu historischen Zwecken sorgfältig aufgenommen. Die Ergebnisse sind: die große Glocke: Inschrift in lateinischen großen Buchstaben:
Zur Huelfe Laeut ich / Zur Andacht lad ich / Der Christen Chor / Um Todte klag ich / Gebete trag ich / Zu Gott empor.
Umgegossen fuer die Gemeinde Varenholz im Mai 1849 von Henschel und Sohn in Cassel. Merckel, Pastor, Knöner, Kuester, Bock, Kirchendeche und
Bürgerm. zu Varenholz, Depping, Kirchend. zu Stemmen, Klemann, Kirchend. zu Erder. Höhe: 73 cm, Durchmesser: 78 ½ cm. Gewicht (nach der amtlichen Tabelle aus dem Durchmesser geschätzt): 300 kg. Ton h. [Randbemerk: Das tatsächliche Gewicht erwies sich beim Wägen als viel niedriger: 258 kg.]
Die kleine Glocke: Inschrift in lateinischen großen Buchstaben: Ehre sei Gott in der Hoehe, Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.

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Umgegossen fuer die Gemeinde Varenholz im Mai 1849 von Henschel und Sohn in Cassel. Höhe 58 cm, Durchmesser unten 62 cm, Gewicht (nach der amtlichen Tabelle aus dem Durchmesser geschätzt): 150 kg. Ton d. Die Angaben in dem Buche von Dreves „Die Kirchen, Pfarren u.s.w. des Lippischen Landes“ sind also unvollständig und fehlerhaft.

Eintrag 3. Mai 1917
Den 3. Mai 1917
Zu dem sehr günstigen Ausfall der 6. Kriegsanleihe hat auch die Arbeit unserer Gemeinde beigetragen. Trotz der außerordentlich ungünstigen Zeit, in der durch Konfirmation und Festzeit die kirchliche Arbeit besonders angestrengt war, wirkte doch der Geistliche für die Kriegsanleihe nicht nur von der Kanzel sondern auch durch persönliches Austragen von Zeichnungsformularen in allen Häusern in Varenholz, wo sich ein Erfolg erhoffen ließ, und Bitte um Beteiligung. Ich habe den Eindruck, daß im allgemeinen eine größere Bereitwilligkeit herrscht als bei den früheren Anleihen. Widerstand und törichte Gegenrede wagen sich nicht so hervor, auch zieht wohl das Beispiel der früheren Zeichner, welche schon regelmäßig ihre hohen Zinsen beziehen. Die Kirchengemeinde beschloß, ein Pfarrkapital von 1800 M in Kriegsanleihen anzulegen. In Erder und Stemmen arbeiteten die Lehrer treu für die Anleihe.
Gestern trat unerwartet ein stämmiger junger Mann in Marine-Uniform in meine Stube, der sich als Fritz Mesch aus Erder vorstellte. Er war derselbe, der auf dem

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Minenleger „Albatros“ gefahren hatte und das Gefecht dieses Schiffes am 2. Juli 1915 vor der Küste von Gotland gegen eine Übermacht russischer Schiffe mitgemacht hatte, wobei der „Albatros“ beschädigt auf Strand gesetzt und die Mannschaft interniert wurde. [Anmerkung: Zur Geschichte der Albatros: Schubert, Peter und Soht, H., Die deutschen Marinen im Minenkrieg, Band 1. Rostock 2006, S. 251 f. Bei dem Seegefecht vor Gotland sind 27 Besatzungsmitglieder getötet und 49 verwundet worden.] Mesch wurde an Bein und Fuß verwundet, genas aber in guter Pflege der Schweden vollständig. Auf meine verwunderte Frage, ob er denn nicht mehr im Internierungslager Hallvards auf Gotland sei, gab er die Auskunft, daß er von dort entkommen sei. Wie er mit den Kameraden aus dem Lager entkommen, dürfe er noch nicht sagen. Im übrigen gab er etwa folgenden Bericht: Nachdem wir 1¾ Jahr interniert gewesen, wurde unsere Sehnsucht nach der Heimat immer größer. Unser Lager war nahe der Meeresküste, 20 km von Wisby. Das alte Wisby mit seinen herrlichen Ruinen haben wir mehrmals besucht und uns die Bauten u. ihre Geschichte von unseren Offizieren und von schwedischen Führern erklären lassen. Sonst ist jene Gegend von Gotland ziemlich einförmig, der Boden steinig und wenig fruchtbar. Der Aufenthalt im Lager wurde immer öder, obgleich täglich 2 Stunden exerziert wurde, und wir viele Zeit mit Sportübungen, besonders Fußballspielen und Diskuswerfen hinbrachten. Gottesdienste wurden von unserm Kommandanten regelmäßig gehalten, gelegentlich auch von schwedischen, deutsch sprechenden Geistlichen, die auch Bibeln unter uns austeilten. Auf dem Schiffe war ein Leutnant, mit dem ich schon vor dem Kriege zur See gefahren war, aus der Gegend von Hamburg gebürtig. Mit ihm und noch 3 anderen Kameraden

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entschloß ich mich zu entfliehen. Ein Plan nach dem andern wurde gefaßt und entworfen: die Sache war gefährlich; vereitelte Fluchtversuche wurden mit schwerem Arrest bestraft. Es war auch schwer, unter uns in Verbindung zu stehen, da die Offiziere in einer anderen Baracke untergebracht waren als wir Matrosen; aber da ich bei einem anderen Offizier Bursche war, so hatte ich dort freien Zutritt und konnte vermitteln. Am 18. April schien die rechte Zeit zu sein; der Wind günstig u. nicht zu stark, die Nächte mondlos u. dunkel. Wir hatten uns einen offenen Fischerkahn von etwa 5 m Länge verschafft u. ihn mit Proviant für 5 Tage ausgerüstet. Es gelang uns, glücklich aus dem Lager zu kommen und uns bei unserem Kahn zusammenzufinden. Als wir ihn bestiegen, sagte unser Leutnant: „Es geht auf Leben und Tod, wer nicht mit wagen will, kann noch zurücktreten.“ Wir aber waren alle fest entschlossen. Wir nahmen Kurs nach Südosten u. waren die Nacht u. einen Teil des folgenden Tages auf See. Da setzte uns ein schwedisches Torpedoboot nach u. war schon in Sicht von uns gekommen, als im Osten eine Gruppe anderer Torpedoboote sich zeigte. Wenn das russische waren, war guter Rat teuer und vielleicht besser, uns den Schweden wieder auszuliefern, doch entschloß sich unser Leutnant an jene Gruppe näher heranzugehen. Wir hatten eine deutsche Kriegsflagge mitgenommen, die schwenkten wir. Das Zeichen wurde beantwortet, u. wir sahen daß es deutsche Schiffe waren. Unsere Freude war übergroß. Angesichts der Schweden, die es nicht hindern konnten, nahmen die Kameraden uns auf u. brachten uns am nächsten Tag nach Liebau,

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wo wir sofort Heimaturlaub erhielten. Mesch berichtete, daß die Schweden sich anfangs sehr deutschfreundlich und liebenswürdig gezeigt hätten, die Stimmung sei aber nach und nach ins Gegenteil umgeschlagen, besonders seit der Erklärung des unbeschränkten Unterseebootkrieges, der auch Schweden sehr schädigt. Auch die Kost sei immer knapper u. schlechter geworden.

Eintrag 11. Mai 1917
Den 11. Mai 1917
Der Kriegsgefangene Hermann Teigeler, seit Sept. 1915 in russischer Gefangenschaft, hatte seit fast einem Jahr nichts von sich hören lassen, obgleich seine Frau treulich jede Woche zweimal an ihn geschrieben hatte. Er wurde deshalb allgemein für tot gehalten. Heute kam endlich wieder eine Karte von ihm an, vom 19. März. Er ist beim Forstamt in Kungur, Gouvernement Perm. Da er sich beklagt, daß er seit Jahresfrist nichts von hier gehört habe, muß er von all den Sendungen nichts erhalten haben. An der Freude der Familie nahm der ganze Ort teil.

Eintrag 25. Mai 1917
Den 25. Mai 1917
Am 11. Mai wurde mit der Beerdigung des Landwirts Anton Plöger der neue Stemmer Friedhof eingeweiht, der 10 Minuten vom alten entfernt an der Landstraße nach Langenholzhausen liegt, rechter Hand. Durch ein ausbrechendes Gewitter wurde die Feier gestört und mußte auf das notwendigste beschränkt werden.

Eintrag 28. Mai 1917
Den 28. Mai 1917
Seit einigen Tagen sind in der Gemeinde 12 Großstadtkinder untergebracht, aus Essen, davon 4 in Varenholz und 8 in Stemmen. Der Erfolg der mehrmaligen Kanzel-Aufforderung, Großstadtkinder aufzunehmen, da an ihren Wohnorten Mangel an Nahrungsmitteln herrscht, insbe-

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sondere an Kartoffeln und Milch, war verhältnismäßig gering. In den umliegenden Gemeinden haben sich weit mehr Familien dazu bereit erklärt. Der Grund liegt teils in schlechten Erfahrungen, die mit aufgenommenen Kindern aus Hannover-Linden zu Anfang des Krieges gemacht wurden, teils in Nachrichten über ungünstige Erfahrungen, die in den Gemeinden jenseits der Weser neuerdings gemacht werden. Die meisten jener 12 Kinder (8) kamen am 23. d. M. in Veltheim unter Führung eines Lehrers aus Essen an und wurden, weil der Pastor verreist war, von der Pfarrfrau freundlich in Empfang genommen und herübergeführt. Das Pflegegeld für die Kinder ist vorläufig auf 12 M monatlich festgesetzt. [Randbemerk: Natürlich hat auch das Pfarrhaus ein Kind aufgenommen.]

Eintrag 22. Juni 1917
Den 22. Juni 1917
Die Zahl der Großstadtkinder hat sich erhöht, da in Erder 3 Kinder aus Hagen untergebracht sind. Außerdem haben mehrere Familien aus eigenem Antrieb Kinder aus ihrem Verwandten- und Bekanntenkreis aufgenommen, so daß mindestens 20 Großstadtkinder in der Gemeinde sein müssen. Hinzu kommen noch die schon länger aufgenommenen Waisen- und Fürsorgezöglinge aus Schweicheln, 13 an der Zahl, die freilich nicht als „Kriegskinder“ gerechnet werden können. Über das Betragen der Kriegskinder ist bisher keine Klage gekommen. Es geht ein großes Sterben durch die Welt, auch abgesehen von den Kriegern; das zeigt auch unser Begräbnisregister. Während im ganzen Jahr 1916 nur 17 Todesfälle waren, haben wir in diesem Jahr, das noch nicht

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halb abgelaufen ist, bereits 22. Es sind meist Alte und Schwache, die die nötigen Stärkungsmittel nicht mehr wie früher bekommen können. Überanstrengung bei Abwesenheit der Arbeitskräftigen und allgemeine u. besondere Sorgen der Zeit kommen hinzu. Dagegen haben wir erst 9 Taufen gehabt. Die Größe der Lebensmittelnot in den Großstädten zeigt der Umstand, daß jetzt täglich Scharen von Frauen unsere Dörfer durchziehen, die Kartoffeln, Brot, Eier u. a. zu jedem Preise aufkaufen, oft auch durch bewegliche Klagen sich erbetteln, sei es auch in den kleinsten Qualitäten. Es ist schwer, dem gegenüber nein zu sagen, auch wenn man um sich u. die Seinen sorgen muß. Nachdem pünktlich u. plötzlich am 1. Mai warme Frühlingswitterung eingetreten war, holte im Mai die Vegetation schnell nach, was sie im kalten April versäumt hatte. Die Hitze wurde schon im Mai u. noch mehr im Juni groß, und es drohte eine Dürre. Diese wurde aber vom 19.6. an durch ergiebige Gewitterregen abgewandt. Gott sei Dank!

Eintrag 28. Juni 1917
Den 28. Juni 1917
Heute ist unsere größere Glocke vom Turm gestiegen, um in den Krieg zu ziehen. Am Montag, dem 25. d. M. hatte sie ihr Abschiedsgeläut zugleich mit der anderen erschallen lassen, das manche Einwohner des Fleckens zu Tränen gerührt hat, mittags nach dem Gebetsläuten, zweimal 10 Minuten lang. Darnach wurde sie nicht mehr gerührt, obgleich noch eine Kriegsbetstunde u. eine Beerdigung war. Heute wurde sie unter Leitung von Zimmermann Schöttker und Klempnermeister Petersmeier aus ihrem Lager losgeschraubt, herunter-

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gelassen und dann ostwärts vom Turm, dessen eines Verschalungsfach weggenommen war, heruntergestürzt. Sie kam unbeschädigt unten an und rollte den Kirchenhügel herab in den Garten (früher Wallgraben) unten. [Randbemerk: Für die Glocke wurde gezahlt: 258 kg. Je 3,50 M = 903 M. Prämie von 1 M für das Kg wegen Ablieferung vor dem 30. Juni: 258 M, zusammen: 1161 M.] Morgen wird Landwirt Münstermann sie nach Brake fahren und unterwegs auch eine der drei Langenholzhauser Glocken mitnehmen. In den meisten Gemeinden des Landes werden Glocken abgenommen. Uns bleibt zunächst die kleinere zum Läuten, aber ihre schwache Stimme klingt recht kläglich. Mögen sie hinziehen u. in neuer Gestalt für die Heimat arbeiten u. kämpfen; in Gottvertrauen warten wir der Zeit, wo eine neue Glocke aufgezogen wird, um der Nachwelt Kunde zu geben von dieser schweren Zeit und ihrer Überwindung.

Den 19. Juli 1917
Gestern ließ sich ein Geschwader von vier Flugzeugen sehen, die über unserer Gegend kreisten. Durch die wolkige, unsichtige Luft u. die herrschenden Windböen
wurden sie auseinandergetrieben u. zu Notlandungen an verschiedenen Orten gezwungen. Eines landete bei Langenholzhausen, u. wir gingen alle abends hinüber, es uns anzusehen. Es lag auf einem Kartoffelacker: ein kleiner Zweidecker, der beim Landen einen Propeller gebrochen hatte. Die Insassen, ein Leutnant als Führer u. ein Beobachter, waren unverletzt. Sie wollten heute, sobald der bestellte Ersatz-Propeller angekommen sein würde, nach dem Sennelager, von dem sie aufgestiegen waren, zurückfliegen.

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Den 4. Aug. 1917
Lobe den Herrn, meine Seele! Heute zum ersten Male nach langer Zeit wieder Fahnenwehen u. Siegesgeläut. Es kommt die Kunde, daß der ruhmreiche Durchbruch der Unseren im Osten soweit gediehen ist, daß nun Galizien ganz befreit u. auch Czernowitz wieder besetzt ist. Das wird auch unseren Tapferen
in Flandern, die dem rasenden Durchbruchsversuch der Engländer seit etwa einer Woche mit Erfolg widerstehen [Anmerkung: 31. Juli - 6. November 1917 Dritte Ypern-Schlacht. Verluste: 245 000 Engländer / 8000 Franzosen und 260 000 Deutsche.] die Kraft und den Mut verdoppeln. Das Bewußtsein dieses Erfolges wird auch die morgige Erinnerungsfeier an den Ausbruch des Krieges vor 3 Jahren verklären. Die Ernte ist im vollen Gange u. verspricht in unsere Gegend besser zu werden als im Vorjahr. Die auf der Domäne besonders üppig gediehenen Hülsenfrüchte, Erbsen und Feldbohnen, wurden (bzw. werden) mit Hilfe der Schuljugend
eingebracht. Auch die Schulkinder aus Rinteln sind mehrere Tage lang bei der Erbsenernte tätig gewesen. Die Bohnenernte wird jetzt mit Hilfe der Schuljugend von hier eingebracht. Auch mein 12 jähriger Sohn beteiligt sich daran u. gewinnt sein erstes selbstverdientes Geld. Auch am Rübenziehen u.a. Arbeiten haben sich die Schulkinder von hier u. der Umgegend beteiligt, die hierzu je nach Bedürfnis schulfrei hatten. Natürlich leidet der Unterricht in der Schule sehr darunter. Auch der Konfirmandenunterricht leidet, da die Kinder öfter fehlen um zu Hause zu helfen. Der Roggen hat, im Gegensatz zum Vorjahr, größere Ähren, die dicht besetzt sind mit wohl ausgebildeten Körnern. Die Kartoffeln versprechen eine gute Entwicklung, wozu die Regenfälle dieser Tage nach langer Dürre beitragen. Die Teuerung aller Lebensbedürfnisse steigt stetig.

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Lederschuhwerk ist fast nicht mehr zu haben. Es gelang in Langenholzhausen für unsere Kinder noch 6 Paar Strümpfe zu erwerben, zum Preise von zus. 51 Mark!

Den 5. Aug. 1917
Heute begingen wir in der Kirche den Gedenktag des Kriegsanfanges vor 3 Jahren. Der Text war 1. Cor. 16, 13-14. Die Kirche war mäßig besucht, - ein Zeichen der Abnahme des religiösen Aufschwunges. Nur ein Kriegerverein (Erder) war mit Fahne erschienen.

Den 10. Sept. 1917
Am 4. September konnten wieder einmal unsere Fahnen zur Feier eines deutschen Sieges wehen: es kam die Kunde von der Einnahme Rigas. [Anmerkung: 3. September 1917.] Gott sei Dank, daß diese alte deutsche Gründung wieder gewonnen ist! Möchte sie eine deutsche Stadt bleiben! Gestern, am 9. Sept., feierten wir unser Missionsfest. Es soll auch in Zukunft am zweiten Sonntag des September begangen werden. Schon am Vormittag wurde über die Mission gepredigt u. Schriften verkauft. Die Hauptfeier begann auf den Wunsch der Festprediger erst um 4 Uhr nachmittags u. war recht gut besucht. Es predigten Pastor Ruperti (Lüdenhausen) u. Missionar Fehr (Almena). Die Kollekte betrug 150,21 M, welche der Rheinischen Missionsgesellschaft zufließen werden. Es wurden für 15,15 M Schriften verkauft.

Den 1. Oktober 1917
An der letzten Kriegsgebetstunde am 18. Sept. nahmen nur 10 Besucher teil. Wegen der hereingebrochenen Dunkelheit konnten nur bekannte Lieder genommen
werden, u. der Geistliche mußte seinen ganzen Dienst aus dem Kopfe verrichten. Für die Zeit der Kartoffelernte sind die Kriegsbetstunden, die seit Kriegsausbruch regelmäßig gehalten wurden,

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einstweilen eingestellt. Wann u. ob sie wieder aufgenommen werden können, ist fraglich, da es fast gar keine Kerzen mehr gibt. Die Kartoffelernte ist bei sehr hellem Wetter im vollen Gange u. scheint vorzüglich zu sein. Die 7. Kriegsanleihe ist aufgelegt, u. der Geistliche wieder Vertrauensmann geworden. Ein Anfang der Werbung für sie wurde gestern in der Feier von Hindenburgs 70. Geburtstag (geb. 2. Okt. 1847) gemacht. Um ½ 8 Uhr abends fand im vollbesetzten Saale von Dohme eine Versammlung statt. Den ersten Vortrag hielt Pastor Harms über „Unser Hindenburg und sein Landherr“. Dann sprach Herr Korvetten Kapitän Göhle aus Wilhelmshaven, der seinen Urlaub auf dem Schlosse hierselbst verbringt, auf Grund eigener Erlebnisse über „Unsere Flotte im Weltkriege“, wobei er besonders die Schlacht vor dem Skagerrak schilderte, an der er selbst als Führer einer Torpedobootflotille [sic] Anteil genommen hat. Als dritter Redner beantwortete Pastor Wesemann aus Langenholzhausen die Frage, „Wie wir Hindenburg danken können“. Hierbei wurde auch die Notwendigkeit der Beteiligung an der Kriegsanleihe betont. Pastor Harms u. Wesemann wiederholten ihre Vorträge am Sonntag darauf auf einer ähnlichen Versammlung in Langenholzhausen.

Den 6. Nov. 1917
Zur Kriegsanleihe wurden vom Geistlichen selbst die Zeichnungsscheine in einen großen Teil der Häuser von Varenholz gebracht u. dafür geworben. Vielerwärts wurden sie angenommen in der Absicht zu zeichnen. Es ist anzunehmen,

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daß hierselbst ziemlich viel gezeichnet worden ist. In Stemmen u. Erder taten die Lehrer den gleichen Dienst. Lehrer Fricke hielt in Erder am 7. Okt. auch eine Hindenburgfeier ab. Die Großstadtkinder aus Essen u. Hagen sind seit Oktober nach u. nach wieder nach Hause zurückgekehrt. Es waren ihrer aus Essen 13, aus Hagen 5. Die Führung war bei allen gut, mit Ausnahme eines Mädchens aus Essen, welches aus Stemmen zurückgeschickt werden mußte. Sonst waren sie im allgemeinen bescheiden u. dienstwillig, haben sich auch gut an ländliche Verhältnisse gewöhnt u. wollen gerne nächsten Sommer wiederkommen. Ein Mädchen,
dessen Mutter verstorben ist u. dessen Vater im Felde steht, wird von den Pflegeeltern in Stemmen ohne Kostgeld den Winter über behalten. Am 14. Okt. feierte Lehrer Fricke in Erder sein 25 jähriges Amtsjubiläum. Auf Anregung des Pastors veranstaltete der Schulvorstand eine Sammlung, die etwa 90 M ergab. Hierfür wurde angeschafft: ein Eßservice, ein Korbsessel u. ein Blumenständer. Diese Gaben wurden am Nachmittag im Beisein der Kinder und des Schulvorstandes mit einer Rede des Pastors im geschmückten Schulzimmer übergeben. Der Pastor fügte als persönliche Gabe ein größeres gerahmtes Bild – die Reformation von Raulbach, hinzu. Die 400 jährige Gedenkfeier der Reformation war vorbereitet durch fortlaufende Erzählungen über Luther u. die Reformation bei den Konfirmanden u. im Jungfrauenverein. Am 31. Okt. (Mittwoch) fand feier-

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licher Gottesdienst statt, zu welchem der Pastor mit den Konfirmanden im festlichen Zuge ging. Der Besuch des Gottesdienstes war abgesehen von den Schulkindern, leider gering, die Kollekte für die Kriegsgeschädigten Gemeinden des Auslandes u. der Schutzgebiete jedoch gut: 45 Mark. – Übrigens macht
sich im Besuch des Gottesdienstes bereits der Mangel an Schuhwerk u. die geringe Möglichkeit zur Ausbesserung störend bemerkbar. (Am 31. Okt. über reichte der praktische Arzt Dr. Finke hierselbst der Kirchengemeinde eine Stiftung von 200 Mark. Der Betrag soll in Anteilscheinen der „Ostdeutschen Ansiedlerhilfe“ des Evangelischen Bundes angelegt werden. Die Zinsen sollen bis auf weiteres zum Kapital geschlagen werden. Wenn ein beträchtliches Kapital angesammelt ist, soll es zur Förderung der bodenreformerischen Tätigkeit der evangelischen Kirche, z.B. zur Beihilfe zur Ansiedlung von Kriegsbeschädigten, dienen.) [Randbemerk: Die Stiftung mußte 1918 auf Anordnung des Konsistoriums zurückgegeben werden, weil nicht mündelsicher.] Der Übergang nach Oesel (12. Oktober) [Anmerkung: Ösel - Insel in der Rigaer Bucht] u. die in den letzten Tagen erkämpften ungeheuren Erfolge in Italien (bis jetzt über 200 000 Gefangene) [Anmerkung: 24. Oktober 1917 Großer Sieg deutscher und österreichischer Truppen über Italien an der Isonzo-Front.] lösen hier auf dem Lande nur geringen Jubel aus. Man versteht die Wichtigkeit und Bedeutung nicht. Die Kriegsmüdigkeit u. die Überarbeitung erzeugen weithin eine dumpfe Gleichgültigkeit. Unser Volk ist sehr zähe im Ertragen, aber wenig weitblickend u. schwungvoll. Außerdem hat unsere Gemeinde in der bedauernswerten Schlappe in Frankreich am Damenwege [Gemeint ist der "Chemin de Dames" in Frankreich. Die Schlacht am Damenweg war eigentlich eine schwere französische Niederlage] schwere Verluste erlitten.]

Den 10. Nov. 1917
Seit dem Kampfe am Damenwege, 23. Okt. sind aus

[Seite 56, fol. 29v]
der Gemeinde 3 vermißt, darunter ein Sohn des Oberamtmanns Treviranus (Oberleutnant), wahrscheinlich gefangen. Ein Vierter ist seit Ende Sept. in Flandern vermißt. Am 24. Okt. hat die große Angriffsbewegung gegen Italien eingesetzt, die zu so ungeheuren Erfolgen geführt hat. Und jetzt kommt die Nachricht von der neuen Revolution in Rußland [Anmerkung: "Oktoberrevolution", Beginn 7. November 1917], die vielleicht eine Friedenspartei ans Ruder bringen wird. Gott sitzt im Regimente!

Den 4. Dez. 1917
Heute wurden die Kriegsbetstunden wieder aufgenommen. Da der Organist wegen der Volkszählung verhindert war, spielte die Pfarrfrau die Orgel. Es waren 13 Frauen anwesend. Matth. 18, 20. Wohl ist es nötig zu beten, da uns Gott durch das Friedensangebot Rußlands das Morgenrot besserer Zeiten zeigt. Die Kriegs- betstunde begann ½ 4 Uhr. Seit vorgestern ist Schnee- u. Frostwetter. 5 Grad C Kälte. Das frühe Einsetzen des Winters ist bei den geringen Vorräten an Heizmaterial schlimm. Die Kirche konnten wir bisher nicht heizen. Wenn uns der Domänenpächter nicht hilft, werden wir ohne Kirchenheizung sein. Der Kirchenbesuch ist leider ganz zurückgegangen. [Randbemerk: Glücklicherweise konnte vom Weihnachtsfest an doch geheizt werden, zuerst mit Hilfe des Domänenpächters, dann des Kohlenhändlers.] Im Inneren des Vaterlandes stehen wegen der bevorstehenden Einführung des ganz unsinnigen gleichen Wahlrechts in Preußen (u. dann gewiß auch in den anderen Staaten) schwere Zeiten bevor.

Den 28. Dez. 1917
Wieder liegt das Weihnachtsfest hinter uns, das vierte im Kriege. In der Kirche waren die Christbäume nur sehr spärlich mit Kerzen besetzt, da es schwer war,
welche

[Seite 57, fol. 30r]
aufzutreiben (für das Pfarrhaus erwarb ich für 5 Mark in Rinteln 20 Christbaumkerzen). Da auch sehr wenig größere Kerzen für den Kirchenraum vorhanden
waren, so war die Beleuchtung mangelhaft. Der Text der Ansprache Joh. 8, 12 war darum angebracht. Am Sylvesterabend wird es in dieser Beziehung noch
ungünstiger sein, da die meisten Kerzen verbraucht sind. Das Fehlen von Schuhwerk macht sich immer stärker bemerkbar. Die Schüler des Rintelner Gymnasiums fangen an mit Holzschuhen in die Schule zu kommen. Ein Weihnachten bei starkem Schnee und Frostwetter wie diesmal ist seit Jahren nicht gewesen.

Den 1. Januar 1918
Aus dem alten Jahr gingen wir heraus mit dem Silvestergottesdienste, in dessen Mittelpunkt 1. Mos. 16, 7-8 stand. Die Christbäume strahlten diesmal nicht im reichen Kerzenglanz, nur eine Kerze auf der Spitze jedes Baumes. In das neue Jahr sind wir mit Off. Joh. 2, 10 hineingetreten. Im Anschluß an eine Schrift von Pfarrer Niemöller, Elberfeld, tat ich 7 Bitten für die evang. Kirche: 1. Mehr Treue, 2. Mehr Dienstwilligkeit, 3. Mehr Eifer, 4. Mehr Bekennermut, 5. Mehr Opferwilligkeit, 6. Mehr Geduld, 7. Mehr Einigkeit. Möchte von diesen Bitten auch in unserer Gemeinde Einiges erfüllt werden!

Den 10. Jan. 1918
Vorgestern, 8. Jan., kam durch ein Telegramm des Roten Kreuzes in Hamburg die Nachricht, daß der Kriegsgefangene Hermann Teigeler als Austauschver- wundeter aus Rußland heimkehren werde u. bereits … [unleserlich] passiert habe. Das wäre für unsere Gemeinde die erste Frucht des Waffenstillstandes
im Osten.

[Seite 58, fol. 30v]
Zu Anfang des Jahres 1918 standen im Waffendienste für das Vaterland: 243 Mann aus der Gemeinde (Stemmen 92, Varenholz 68, Erder 83). Die Verminderung
gegen 1917 rührt besonders daher, daß eine Anzahl zur Leistung von Zivildienstpflichten vorläufig entlassen sind. Der Höhepunkt der Militärdienstleistung
scheint überschritten zu sein. Da noch 15 andere, die nicht mehr in der Gemeinde wohnen, auf Wunsch der Angehörigen auch mit Lesestoff versorgt werden, so weist meine Kriegerliste 258 Namen auf (1 ist außerdem im Gefängnis). Die Versorgung mit Lesestoff geschieht wie bisher. Im verflossenen Jahre fielen 9 (bisher im ganzen 34). Vermißt werden bisher 5 (wohl alle tot), gefangen sind 15. Das Eiserne Kreuz erwarben sich, soweit bekannt, bisher 54.

Den 19. Jan. 1918
Teigeler ist am 11.1. in Lübeck angekommen und liegt dort im Lazarett. Er leidet an Skorbut.

8. Febr. 1918
Das Geld verliert immer mehr seinen Wert: 100 Zigarren kauft man jetzt für 29 M, also das Stück für fast 30 Pfennig, während man in Friedenszeiten eine für 3
½ - 5 Pfennig kaufen konnte. Ein Gramm Blumenkohlsamen kostet 1 M; da man mindestens 10 g für den Garten gebraucht, so muß man allein hierfür 10 M aufwenden, dabei sind Sämereien nicht nur sehr teuer, sondern fast gar nicht zu haben. Auch Obstbäume sind schwer zu beziehen, besonders Zwetschgen, davon im letzten harten Winter viele erfroren sind. Ich muß im Pfarrgarten 7 erfrorene ersetzen u. werde sie wohl

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aus Schlesien beziehen müssen, das Stück zu 5 – 7 M, etwa das Siebenfache des Friedenspreises. Es ist eine Zeit des Wartens. Man wartet auf die große Offensive unsererseits im Westen u. damit neues Blutvergießen, das aber Sieg und Ende bringen soll, u. auf den Frieden im Osten, der sich durch die Hinter- hältigkeit der Russen verzögert. Die dortigen Revolutionäre möchten am liebsten unser Haus auch innen anzünden. Glücklicherweise sind die Streiks in unserer Rüstungsindustrie Anfang dieses Monats mißlungen u. bereits beigelegt.

Den 9. Febr. 1918
Heute bringt mein Junge die Nachricht von Rinteln, daß der Friede mit der Ukraine52 unterzeichnet ist. Friede! Ein ganz ungewohnter Klang seit 4 Jahren. Gott lasse es einen guten Anfang sein. Die Macht der Regierung, mit der wir Frieden schließen, ist ja freilich bestritten; möchte sie sich durchsetzen, damit wir nicht mit einem Luftgebilde Frieden geschlossen haben!

Den 11. Febr. 1918
Soeben bringt Frl. Marger Treviranus die telefonisch von Rinteln erhaltene Nachricht, daß mit Rußland Friede geschlossen ist. Die Fahne weht, u. die Glocke läutet, zum ersten Male für den Frieden, nach so manchem Siegesgeläut. Danket dem Herrn, denn er ist freundlich u. seine Güte währet ewiglich! Heute Nachmittag Friedensdankfeier in der Kirche, wozu durch Fernsprecher, Schulen u. Boten eingeladen wird. Die Friedensfeier war trotz schlechten Wetters recht gut besucht. Ich hielt eine Ansprache über Psalm 147, 12-14.

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Den 4. März 1918
Die Friedensnachricht vom 11. Febr. ist eine Täuschung gewesen. Das Deutsche Schwert mußte erst noch tiefer eingreifen. Aber nun hat es uns wirklich den Frieden mit Rußland verschafft. Dank der Verblendung der Feinde unter bedeutend schärferen Bedingungen. Heute wird amtlich bekannt gegeben, daß gestern in Brest-Litowsk der Friede mit Rußland [Anmerkung: 3. März 1918 Friedensvertrag von Brest-Litowsk] unterzeichnet ist.
Gott sei gepriesen!

Den 20. April 1918
Für die 8. Kriegsanleihe konnte ich diesmal nicht von Haus zu Haus wirken sondern nur durch Mahnungen von der Kanzel u. durch Verteilen lassen von Flugblättern u. Zeichnungsformularen, da die Osterarbeit dazwischen kam u. ich einen Zeitungsartikel über das neue Gesangbuch auszuarbeiten hatte. Die Kirchen gemeinde beteiligte sich mit Zeichnung von 2100 M Pfarrkapital und 700 (600 + 100 M) für die Kirchenkasse. Die Kriegsgebetstunde ist wegen der Frühlingsbestellzeit einstweilen ausgesetzt. Ob es bei der geringen Beteiligung angebracht ist, sie vor dem Spätherbst wieder einzurichten?
Das neue Gesangbuch, das nach dem Kirchengesetz zu Ostern d.J. (neben dem alten) in Benutzung genommen werden sollte, konnte noch nicht eingeführt
werden, weil es wegen der Kriegsschwierigkeiten noch zu wenig im Handel zu haben ist.
Seit 4 Wochen tobt die furchtbarste Schlacht im Westen und unsere Leute haben schon herrliche Erfolge errungen. Geht es weiter so, so kann es die
Entscheidung bringen. [Anmerkung: 21. März 1917 Beginn der großen deutschen Frühjahrsoffensiven an der Westfront, die den Sieg über die Alliierten bringen sollten. Abbruch der letzten Offensive am 7. Juli 1918. Am 18. Juli beginnen dann die Gegenoffensiven der Alliierten, die die militärische Wende und die Niederlage des Deutschen Reiches besiegeln.]

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Mit noch größerer Spannung wie sonst, wartet man auf die neuesten Nachrichten. Aber die Gemeinde hat auch wieder Opfer bringen müssen: Seit Ende
Februar sind 4 gefallen. Morgen ist Gedächtnisfeier für Christian Könemann aus Stemmen, der am 24.2. bei der Eroberung von Pleskau in Rußland fiel.
Gestern wurde ein junges Mädchen beerdigt. Den Leichenwagen führte der bei Münstermann beschäftigte gefangene Franzose mit roter Hose u. blauer Joppe.
Ein für die Zeit bezeichnender Anblick! In das Konfirmandenzimmer wurde vor einigen Wochen die elektrische Lichtleitung gelegt, damit der Jungfrauenverein, der das Gasthaus nicht mehr benutzen kann, abends dort tagen kann. Die Kosten betrugen 120 M.

Den 19. Mai 1918
Heute, als [sic] am 1. Pfingsttage ist hier das neue Gesangbuch, an welchem ich auch mitgearbeitet habe (insbesondere ist das Dichterverzeichnis von mir), in Gebrauch genommen. Nach dem Gesetz sollte es bereits Ostern in Gebrauch genommen werden; aber das ließ sich nicht durchführen, weil damals noch fast keine Exemplare feil geboten [sic] wurden. Der drohenden Unzufriedenheit wurde durch mehrmalige Erklärung von der Kanzel über die Notwendigkeit der Neuausgabe entgegengewirkt. Wegen der Kriegsverhältnisse ist es (3,50 M) teuerer als das alte (2,50 M). An beiden Festtagen wurde vor Beginn des Gottesdienstes vom Altar her auf die Neuerung hingewiesen. Das alte wird daneben zunächst weiter gebraucht. Auf den Nummertafeln wird wegen Platzmangel nur das erste Lied angeschrieben.

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Den 7. Juni 1918
In dieser Woche finden im ganzen Reiche Sammlungen für die Ludendorff-Spende für Kriegsbeschädigte statt. In unserer Gemeinde wurde die Sammlung am Sonntag, dem 2. Juni, durch 16 Mitglieder unseres Jungfrauenvereins ausgeführt. Im Gottesdienst wurden die Herzen für den großen Zweck erwärmt. Die Sammlerinnen holten sich im Pfarrhause die Armbinden u. die gestempelten Sammellisten. Wie bei der Sammlung für Soldatenheime Jan. 1917 (S. 37) war die Gemeinde in 8 Bezirke geteilt. Die Sammlung hatte (eingerechnet einige nachträglich eingegangene Gaben) folgendes Ergebnis: Varenholz 362 M, Stemmen 132,40 M, Erder 119,90, Sa 614,30 M. In Varenholz wurden auch große Gaben gegeben (Dr. Finke u. Oberamtmann Treviranus je 100 M). Gegen andere Gemeinden (z.B. das gleich große Lüdenhausen mit 800 M Ertrag) stehen wir freilich noch zurück.

Den 18. Juni 1918
Es ist nicht immer leicht, Tröster zu sein, wenn die erschütternden Todesnachrichten einlaufen, wie in den letzten Wochen wieder mehrere. Neben der gottgelassenen Ergebenheit oder dem dumpfen Fügen in das Unabänderliche treten auch wilde Anklagen auf, ein Toben gegen göttliche und menschliche Obrigkeit, ein Hadern mit Gott, dem „Ungerechten“, da man doch so viel zu ihm gebetet habe. – Hier darf nicht gescholten u. gerichtet werden, sondern liebevoll gilt es, den angefochtenen

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Glauben zu stärken u. Zeit zu lassen zur Selbstbesinnung. (Jes. 42, 3).
Nach etwa 6 Wochen langer Dürre mit merkwürdig kalten Nächten u. zeitweise schädigenden Nachtfrösten ist seit gestern der so dringend nötige Regen gekommen. Er kann Gemüse, Kartoffeln u. Spätgetreide noch vor dem Verderben bewahren u. das so mangelnde Viehfutter schaffen. Der Roggen steht überall vorzüglich. Im deutschen Walde reift uns ein unendlicher Segen an Öl heran, da die Buchen so reichlich tragen, wie seit langen Jahrzehnten nicht. Der Anbau von Rübsamen hat sich wieder stark gemehrt, auch sieht man hin u. her wieder das Blau der Flachsfelder. Hier u. da werden die alten Röttekuhlen wieder aufgegraben, auch ein Zeichen der Zeit. Spinnen u. Weben kommt wieder zu Ehren, u. die wenigen verbliebenen Färber haben wieder voll zu tun, da die Leute die alten Leinenstücke färben lassen, um sie zu Kleidung zu verarbeiten.

Den 31. Juli 1918
Die Zeit wird trüber, u. Wetter ziehen sich zusammen. Die Kämpfe im Westen sind sehr verlustreich: Seit Anfang Mai sind aus unserer Gemeinde 6 gefallen u. 4 vermißt. [Anmerkung: 18. Juli 1918 Beginn der kriegsentscheidenden Gegenoffensiven der Alliierten an der Westfront.] Die Trauernachrichten häufen sich. Das Schlimmste ist die schlechte Stimmung im Lande u. an der Front. Von dort her schrieb mir kürzlich ein wohlmeinender, treuer

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Krieger (Unteroff. Rudolf Stocksmeier aus Erder, Seminarist): „Die Stimmung von 1914 ist unter den Soldaten nicht mehr vorhanden, sie hat sich direkt ins Gegenteil verwandelt. Ich habe in diesen 4 Wochen schon Auftritte erlebt, die ich hier nicht niederschreiben kann u. will. Sie sind direkt ein Dementi auf das, was in den Zeitungen über die Stimmung der Truppen geschrieben wird.“ Urlauber u. sonstige Briefe bestätigen den Geist der Widersetzlichkeit unter den Soldaten. Sie sind des Krieges müde, sie weisen auch hin auf die Unterschleife im Lande, auf die Kriegsgewinner, auf das z.T. vergnügte Leben in den Städten u. wollen für solche Leute nicht länger kämpfen. Sie drohen: „Ist im Herbst kein Friede, so kehren wir das Gewehr um“. Diese Drohung mit Revolution geht auch im Inland um. Allenthalben gärt es. Ob wir die wir den russischen Koloß zerschlugen, im Krieg mit einer Front doch noch unterliegen sollen? Das kann nur durch uns selbst geschehen, Gott behüte uns vor dem Schlimmsten, dem Umsturz durch eigene, wahnwitzige Hand! – Heute vor 4 Jahren war die Aufregung und Spannung auf dem Gipfel. Kommenden Sonntag wird des Kriegsanfanges in den Kirchen gedacht. Die ersten von meinen Konfirmanden, die ich 1915 konfirmiert habe, sind zum Waffendienst einberufen. Vor einigen Jahren saßen sie als Kinder vor mir, jetzt sollen sie schon helfen, das bedrängte Vaterland zu retten. Gott lasse es ihnen gelingen!

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Den 4. August 1918
Heute begingen wir die Erinnerung an den Kriegsanfang vor 4 Jahren. Die Kirche war mäßig besucht. Von den 3 Kriegervereinen war keiner da, trotz besonderer Aufforderung. Ich sprach über 2. Sal. 10, 7-12 u. brandmarkte besonders das landesgefährliche Treiben derer, die sich verlauten lassen: es sei gleichgültig, ob wir unter deutscher oder unter englischer, französischer u.s.w. Herrschaft lebten. “Schandmäuler“ habe ich sie genannt. Ich tat zuerst einen dankbaren [sic!] Rückblick auf die 4 Kriegsjahre, dann einen hoffenden Ausblick u. endlich einen demütigen Aufblick nach oben. Der Herr segne das kräftige Wort auch an der verhältnismäßig geringen Anzahl zur inneren Stärkung!

Den 21. Aug. 1918
Mein offenes Wort vor 14 Tagen hat man mir sehr übel genommen. Es ist eine Art Hetze gegen mich entstanden, als sei ich ein Kriegstreiber u. Friedensfeind. Und das bei einem Menschen, der jeden Sonntag herzlich um den Frieden betet u. täglich mehrmals bei sich zu hause. Man spricht mir das Recht ab, über den Krieg zu reden, weil ich keinen Sohn darin habe u. nicht durch den Krieg litte. Man hängt mir allerhand Verleumdungen an, (z.B. als hätte ich mir zuviel Korn verschafft), so daß ich eine der Verleumderinnen schon mit der Drohung gerichtlicher Verfolgung zum öffentlichen Widerruf zwingen mußte. Dies zeigt, daß hier zu Hause auch ein Kampf nötig ist u. daß man in ihm auch Wunden davontragen kann.

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Bezeichnend für die Stimmung u. unsagbar traurig ist es, wenn auf dem Felde arbeitende Schulkinder, aufgefordert, ein Lied zu singen, das vorgeschlagene Lied „Deutschland, Deutschland über alles“ hohnlachend ablehnen u. dann ein häßliches Lied zu gröhlen anfangen von „Deutschland, Deutschland unter alles!“ Gott bessere es! Unsere Regierenden scheinen keine Ohren für das alles zu haben.

Den 2. Sept. 1918
Mitte August wurde dem Unteroff. Wilhelm Wattenberg aus Erder, vom Pionierbatl. 7, der seit Anfang des Krieges im Felde steht, das Eiserne Kreuz 1. Klasse verliehen, unter gleichzeitiger Beförderung zum Vizefeldwebel. Er hatte bei dem Übergang über die Marne beim Brückenschlagen mitgewirkt, unter scharfem feindlichen Feuer, wobei einmal ein Volltreffer die angefangene Brücke zerstörte. Darnach hatte er mit einigen Kameraden ein amerikanisches Maschinengewehrnest, das hinter der Front unserer vorrückenden Truppen zurückgeblieben war, gefangen eingebracht. Bei dem Rückzug der Unseren über die Marne hat er als die Brücke zerschossen war, eine auf der Südseite zurückgebliebenen Kompagnie, die sonst verloren gewesen wäre, mit mehreren anderen Pionieren in Pontons unter wütendem feindlichen Feuer übergesetzt u. so gerettet. Hierfür besonders wurde ihm Auszeichnung und Beförderung zuteil.

Den 10. Sept. 1918
Vorgestern, den 8. Sept., Sonntag, haben wir unser Missionsfest gefeiert. Am Vormittag predigte schon der

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Festprediger Missionar Link von der Rheinischen Mission, der lange unter den Bataks in Sumatra gearbeitet hat u., kurz vor dem Kriege zur Erholung heimgekehrt, nun ein Pfarramt in Dorsten, Westfalen, verwaltet. Die Hauptfeier war nachmittags 4 Uhr. Anstatt des wieder kurz vorher verhinderten Sup. Corvey, predigte zuerst Pastor Wesemann, Langenholzhausen, u. dann wieder Missionar Link. Der Besuch war mäßig, aber der Ertrag der Kollekte gut. Schon am Vormittag kamen 70 M ein. Mit dem Ertrage des Nachmittags betrug die Kollekte im ganzen 214,16 M, der bisher höchste Ertrag. Die gesandten Schriften im Werte von 12,20 M wurden alle verkauft.

Den 22. Sept. 1918
Heute verteilte ich französische Neue Testamente u. andere religiöse Schriften (Bibelteile, Traktate) an 12 französische und belgische Gefangene, von denen die meisten auf dem Schlosse arbeiten. Sie wurden im Zimmer des Wachtmanns versammelt, ich hielt eine kurze französische Ansprache u. verteilte dann die Schriften, die gerne entgegengenommen wurden. Einer von ihnen sprach dann in seinem u. seiner Kameraden Namen in gebrochenem Deutsch seinen Dank aus. Die Leute sind alle katholisch. Ein anderer französischer Gefangener, der bei Münstermann ist, wurde bereits bedacht, ebenso ein (evang.) Esthe aus Livland, der bei Eickenjäger in Stemmen ist. Das ihm überreichte Neue Testament in seiner esthischen Muttersprache konnte er nicht lesen,

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weil er auf der Schule nur Russisch gelernt hatte. Darum mußte ihm ein russisches Neues Testament beschafft werden. Einige andere Gefangene (auch in Erder) sind noch zu versorgen. Die Schriften liefert die Gesellschaft zur Ausbreitung des Evangeliums in Berlin, kostenlos.

Den 6. Oktober 1918
Gestern wurde mir für Verdienste bei der Werbetätigkeit für die Kriegsanleihe das Verdienstkreuz für Kriegshilfe (Preußisches) verliehen. Auch jetzt ist wieder für die 9. Kriegsanleihe zu werben, was ich aber nicht durch Hausbesuche tue sondern durch Aufrufe von der Kanzel u. Herumschicken von Zeichnungsformularen in die Häuser.
Inzwischen kommt eine Hiobsbotschaft nach der anderen: Bulgarien zusammengebrochen [Anmerkung: Friedensersuchen Bulgariens am 25. September 1918.], die Türken in Palästina u. Syrien [Anmerkung: Waffenstillstandsersuchen der Türkei am 30. Oktober 1918.] schwer geschlagen, neuer Kriegszustand zwischen Türkei und Rußland, u. besonders unsere innere Demokratisierung! Unsere neue demokratische Regierung [Anmerkung: 3. Oktober 1918 Bildung einer parlamentarischen Reichsregierung im Deutschen Reich.] wird ein Friedensangebot machen. [Anmerkung: 3. Oktober 1918 Deutsche Note an US – Präsident Wilson um Herbeiführung eines Verhandlungsfriedens.] Und wenn das abgelehnt wird? Mein Deutschland sollst du sinken? Dann wäre es besser zu sterben. Aber Hindenburg u. das Heer ist noch ungebrochen, u. der alte Gott lebt noch. Sein Reich muß uns doch bleiben.

Den 23. Okt. 1918
Am letzten Sonntag haben wir einen außerordentlichen allgemeinen Buß- und Bettag begangen. Der Besuch der Kirche hier war ziemlich gut. Ich predigte über das Wort aus 1. Pet. 5, 5: „Gott widersteht den Hoffärtigen, aber den Demütigen gibt er Gnade“, wies hin auf die Demütigung unserer Hoffahrt u. die Macht Gottes, auch die Hoffart

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unserer Feinde zu demütigen. – Die hochfahrende Antwort Wilsons läßt für den Frieden, der in Aussicht ist, Schlimmes befürchten. Gleichwohl hat die Regierung eine Antwort gegeben, die ein gut Stück deutscher Ehre preis gibt, indem sie sich vor ihm gleichsam entschuldigt. Ein weiteres Stück einer starken Monarchie ist dahingegeben: Man hat dem Kaiser die Macht genommen, allein Krieg zu erklären u. Frieden zu schließen, u. seine Gewalt über das Heer beschränkt. Die Revolution droht nicht mehr, sondern sie hat begonnen. Nun fragt sich nur, wie weit sie gehen wird.
Die Grippe, die in bösartiger Form durch Deutschland zieht u. viele Opfer fordert, hat auch bei uns ihren Einzug gehalten, besonders in Stemmen liegen ganze Familien daran krank; doch hat sie in meiner Gemeinde noch niemanden hingerafft. Desto mehr anderwärts. In Veltheim stehen 6 Leichen über der Erde, in Silixen u. Almena sollen es weit mehr sein; aus Bielefeld u. Herford wird gemeldet, daß man an Massengräber denkt, weil man die Einzelbegräbnisse nicht mehr bewältigen kann. So erfüllt sich Matth. 24, 7. Off. 6, 1 - 8. Amtsbruder Wesemann, Langenholzhausen, der noch Montag mit mir gesund von der Konferenz in Hohenhausen gekommen war, wurde in der folgenden Nacht von der Seuche gepackt u. liegt danieder. Gestern mußte ich ihn bei einer Krankenkommunion in Calldorf vertreten, heute bei einer Beerdigung ebendaselbst, nachdem ich vorher in Langenholzhausen eine Krankenkommunion

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gehalten. Bei der Beerdigung erfuhr ich, daß der Mann, dem ich gestern das heil. Abendmahl gereicht, bereits gestorben ist, u. nahm seine Beerdigung für Sonnabend an. Morgen habe ich in Langenholzhausen eine Beerdigung zu vollziehen.

Den 24. Okt. 1918
Es kommt Nachricht, daß die Frau in Langenholzhausen, der ich gestern das hl. Abendmahl gereicht habe, auch bereits gestorben ist. Ich werde Sonntag wieder hinüber müssen zur Beerdigung. Glücklicherweise ist Amtsbruder Wesemann in der Genesung.

Den 7. Nov. 1918
Soeben kommt Oberamtmann Treviranus u. bringt sichere, unzweifelhafte Nachricht über eine in Kiel, [Anmerkung:29. Oktober 1918 Meuterei der Matrosen der deutschen Hochseeflotte in Kiel. 4. November Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten.] Hannover und Bremen ausgebrochene Revolution. Die genannten Städte sind in der Gewalt der Revolutionäre, da die gegen sie aufgebotenen Truppenteile zu ihnen übergegangen sind. In Essen u. Köln soll auch Aufstand sein oder unmittelbar bevorstehen. In Kuxhaven [sic] sind schon Meutereien gewesen, die nur mit Not unterdrückt sind. Es ist anzunehmen, daß vielleicht dieser Hafen u. Hamburg auch schon in der Gewalt des Aufstandes ist. Das sind furchtbare Nachrichten. Was wir lange gefürchtet, trifft nun ein. Die Aufrührer behaupten, eine möglichst unblutige Revolution mit dem Ziele des Friedens vorzuhaben. Entsprechende Aufstände brachen zu gleicher Zeit auch in den feindlichen Ländern aus. Wenn das nicht der Fall ist, sind wir dem Feinde schutzlos preisgegeben.
Morgen wird man vielleicht klarer schon sehen, was für

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Herren wir über uns zu erwarten haben. Deutschland (u. vielleicht die Welt) geht aus den Fugen. Gott bewahre uns vor dem Krieg aller gegen alle!

Den 11. Nov. 1918
Vorgestern Abend kam eine erschütternde Kunde: Der Kaiser hat abgedankt u. der Kronprinz verzichtet. [Anmerkung: 9. November 1918 Abdankung Kaiser Wilhelm II. und 10. November Flucht in die Niederlande.] Gestern, Sonntag, habe ich zum ersten Male das Gebet für den Kaiser unterlassen. Unter ihm war die Glanzzeit des deutschen Volkes, die nun vorbei ist. Noch sind die Umstände seiner Abdankung u. die Folgen nicht zu übersehen, insbesondere nicht, ob sein Enkel auf den Thron kommt, oder wir einer Republik entgegengehen. Dabei greift die revolutionäre Bewegung immer weiter um sich, wenn auch bisher ohne viel Blutvergießen u. größerer Unordnung. Dunkel liegt die Zukunft vor uns, zumal da bislang auch kein Waffenstillstand abgeschlossen ist.

Den 13. Nov. 1918
Die Versorgung unserer Krieger mit Schriften, die ich nun 4 Jahre lang betrieben habe, hat ein Ende, da Feldpostbriefe nicht mehr angenommen werden. Denn der Waffenstillstand ist abgeschlossen, die Heimbeförderung unserer Truppen hat begonnen. Die Bedingungen des Waffenstillstandes sind für uns vernichtend, u. der Friede wird dem entsprechend sein. Wir sind in die Hand unserer Feinde gegeben. Gott hat es zugelassen. Die Weltherrschaft der Angelsachsen ist entschieden.

 

 

 

 

 

 

 


 

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